Schon länger befasse ich mich mit unterschiedlichen Sichten auf Wissenschaft und auch damit wie unterschiedlich Wissenschaft in den verschiedenen Wissenschaften verstanden werden kann. Beides wird von mir als wichtigen Teil einer umfassend verstandenen Informationskompetenz und auch Wissenschaft(lichkeit)skompetenz gesehen.
Immer mehr sind mir dabei auch Aspekte der Vielfalt der Wissenschaften wichtig geworden, etwa aus genderspezifischer Sicht (dazu vgl. etwa Iris Mendel: WiderStandPunkte : umkämpftes Wissen, feministische Wissenschaftskritik und kritische Sozialwissenschaften. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015, zu anderen, hier schon erwähnten Texten von Mendel) oder die Frage nach einem Verständnis von Wissenschaft(en) aus nicht-westlicher Perspektive (vgl. dazu etwa Boaventura de Sousa Santos: Epistemologien des Südens : gegen die Hegemonie des westlichen Denkens. Münster: Unrast, 2018).
All das passt nämlich auch zum Nachdenken über das und zum Weiterentwickeln des „ACRL Framework for Information Literacy for Higher Education“, das anlässlich der deutschen Übersetzung des Frameworks in begleitenden Aufsätzen in der Zeitschrift o-bib auch in Deutschland noch mehr Beachtung erfährt.
So bin ich vor Monaten bzgl. des Frames „Authority is Constructed and Contextual“ auf einen passenden Aufsatz mit dem Titel „Exploring worldviews and authorities : Library instruction in Indigenous Studies using Authority is Constructed and Contextual“ von Michael Dudley (College & Research Libraries News, 81(2), 66, 2020) gestoßen.
Die Thematisierung indigenen Wissens hier sowie das im obigen Aufsatz zitierte Buch mit dem Titel „Reshaping the University : Responsibility, Indigenous Epistemes, and the Logic of the Gift“ (UBC Press, 2007) von Rauna Kuokkanen, einer zwischen Finnland und Kanada wechselnden feministischen Wissenschaftlerin für „Indigenous Studies and Political Science“, haben mich vollends neugierig gemacht:
- auf andere Sichten auf die Welt, auf Wissen, auf Wissenschaften, auf …?
- auf Möglichkeiten auch im Bibliotheks- und Informationswesen, in den Informationwissenschaften, eine Sicht der Dekolonialisierung sichtbar zu machen?
- und vielleicht auch eine Sicht auf Informationskompetenz und Wissenschaft(lichkeit)skompetenz zu entwickeln, in die Sichten aus dem globalen Süden und/oder in die indigene Sichten einfließen könnten?
zu 1)
In ihrem spannenden Buch fragt Rauna Kuokkanen nach Möglichkeiten an Universitäten verstärkt ein auch indigene Sichten umfassendes Denken zu etablieren, sie betont mit Derrida, dass „politics and ethics of the university … implies something more than knowledge, something more than a constative statement.“ (Kuokkanen, 2007, S. 7) Anerkennung von Verantwortung für Kolonialisierung, Ausbeutung und Unterdrückung umfasst auch „Openness to various kinds of knowledge“ (S. 20).
Andere Sichten auf das Lernen, auf Wissen sind vielleicht besser geeignet oder gar notwendig (vgl. dazu etwa Herman, R.D.K. Traditional knowledge in a time of crisis: climate change, culture and communication. Sustain Sci 11, 163–176 (2016). https://doi.org/10.1007/s11625-015-0305-9), um anstehende Veränderungen aufgrund der vorhandenen und sich verstärkenden Krisen, wovon die Klimakrise als ökologisch-soziale für mich die entscheidenste ist, besser oder überhaupt bewältigen zu können.
Gegen Ende ihres Buches schreibt Kuokkanen „…, we can speak of ‚multiepistemic literacy‘ with literacy understood in a broad sense, as an ability not only to read and write but also to listen and hear, to learn, …“ (S. 155) Dieses „Multiepistemische“ ist daher in den Titel des Beitrags gewandert.
Eine Kurzfassung von Kuokkanens Buch ist übrigens als „Indigenous Epistemes“ (A Companion to Critical and Cultural Theory. Ed. I. Szeman, S. Blacker, and J. Sully. Wiley-Blackwell (2017). 313-326) publiziert.
zu 2)
Erste Ansätze zum Thema Dekolonialisierung im Bibliotheksbereich sind ja nun auch in Deutschland zu sehen.
Die spannendsten Veröffentlichungen des letzten Jahres im Bibliothekswesen insgesamt waren für mich die Texte von Nora Schmidt, die ihre Dissertation mit dem Titel „The Privilege to Select: Global Research System, European Academic Library Collections, and Decolonisation“ (2020, Lund University, Faculties of Humanities and Theology, https://doi.org/10.5281/zenodo.4011296) auch als deutsche Zusammenfassung veröffentlicht hat: „Überlegungen für die Dekolonialisierung wissenschaftlicher Bibliotheken in Europa“ (2021).
Im Januar 2021 gab es ein von österreichischen Kolleginnen organisiertes Online-Austauschtreffen „Decolonize the Library“ (Aufruf mit Programm und Video, und noch ein Bericht zur Veranstaltung), bei dem auch Nora Schmidt einen Impulsvortrag gegeben hat. Speziell die Betonung von „kultureller Demut“ durch Nora Schmidt, nicht nur bezogen auf das Wissenschaftssystem, gefällt mir.
Gespannt bin ich auch auf das Ergebnis eines Call for Papers der Zeitschrift Libreas mit dem Schwerpunkt Dekolonialisierung.
Macht es Sinn über so etwas Ähnliches wie Informationskompetenz aus Sicht des globalen Südens nachzudenken? Wer hat schon mal über Alternativen, konzeptionell und von der Benennung her, zum Konzept Informationskompetenz nachgedacht bzw. wer kennt solche, die einen indigenen Hintergrund haben oder ursprünglich aus dem „globalen Süden“ stammen?
Ich meine hier jetzt nicht „indigene information literacy“, also eine Informationskompetenz, um Ressourcen indigener oder postkolonialer Sichten auf die Welt, auf Geschichte, auf Wissen usw. zu ermitteln bzw. um Information und Literatur zur Disziplin „Indigenous Studies“ (etwa so etwas) zu finden.
Letztlich bewusst geworden ist mir die Bedeutung von Konzepten aus dem Süden, die im Norden und Westen nur langsam Fuss fassen, vor Jahren bei einem Vortrag zur Ernährungssouveränität, ein Begriff, der aus dem Süden stammt. Auch das „Buen Vivir“, einem Konzept ‚des guten Lebens‘ aus den Andenländern, gehört zu diesen Konzepten, die von Bedeutung für Süd und Nord, West und Ost sein können.