Zum Wandel des Publikationsbegriffs in der post-digitalen Wissenschaft

Vor mehreren Wochen fand in Lüneburg an der Leuphana Universität "The Post-Digital Scholar Conference" statt. Veranstalter war das Hybrid Publishing Lab am dortigen Centre for Digital Cultures (Die Gelegenheit, einem anregenden Workshop vom Hybrid Publishing Lab zum Thema Open Access zu besuchen, nutzte ich schon einmal vor einem Jahr.). Vortragende aus Deutschland und der Welt diskutierten die Entwicklung des wissenschaftlichen Publizierens mit Schwerpunkt im Bereich der Kulturwissenschaften. Die Konferenz ist von den Veranstaltenden reich dokumentiert, mit einem Nachbericht in deutscher Sprache, Twitter-Reviews und Blog-Posts mit Berichten nach der Konferenz, aber auch mit Kurz-Interviews mit den Vortragenden vor der Konferenz. Im Januar sollen die Videos der Panels ins Netz gestellt werden.

Hier folgen punktuelle Eindrücke, Entdeckungen und sonstige persönliche Nachwirkungen von der Konferenz. Im beruflichen Alltag war der Besuch einer solchen Konferenz sicher eine Ausnahme, jedoch möchte ich die vielfältigen aus ihr entstandenen und langfristig wirkenden Anregungen und Gedankenhorizonte nicht missen. Trotz eines eigenen Panels zu Bibliotheken waren aus dem deutschen Bibliothekswesen nur sehr wenige vertreten. Alle anderen verpassten die Möglichkeit eine interessante und kritische Gemeinschaft von Forschenden und ihren Themen zur Weiterentwicklung digitaler Kulturwissenschaften kennenzulernen.

Die Konferenz war eine gute Gelegenheit, internationale Wissenschaftler im Bereich kulturwissenschaftlichen Publizierens wie Kathleen Fitzpatrick, David M. Berry, Geert Lovink oder Gary Hall zu hören oder neu zu entdecken. Das Nachdenken über die Entwicklung der wissenschaftlichen Kommunikation findet in den Geistes- und Kulturwissenschaftlen speziell im Rahmen des Themenfeldes "Digital Humanities" statt. Vergleichbare Spezialgebiete sind in den von der digitalen Entwicklung viel früher betroffenen Natur- und Technikwissenschaften die sich nennenden Bereiche "e-Science" und "Science 2.0", die aber beide wesentlich weniger kritisch wirken als manche der Vertretenden der Digital Humanities (zumindest auf dieser Konferenz!) erscheinen.

Am Ende der nachstehenden Punkte folgen noch ein paar Gedanken zur Transformation des Publikationsbegriffes!

  • Zum Hintergrund des die Konferenz prägenden Begriffes: "What is ‚Post-digital‘?" (2013) – Florian Cramer, Vortragender auf der Konferenz.
     
  • Ein Blog-Beitrag einer Studierenden zur Konferenz endet mit dem Satz "Digital s[c]holarship is like playing jazz.". Dies unterstützt zum Beispiel den Vortrag von Janneke Adema (Blog Open Reflections), der den Titel "Embracing messiness" trug. Ihr "radical open access" stellt das bisherige System kommerziellen Publizierens in Frage. Sie macht bewusst, dass eigentlich beide Wege zum Open Access, die heutzutage hauptsächlich beschritten werden, der goldene und der grüne Weg, die Entwicklung der kommerziellen Verlage fördern [Janneke Adema hat mich hier dankenswerterweise auf eine Ungenauigkeit in der Formulierung hingewiesen. Richtig wird der Satz folgendermaßen: "Sie macht bewusst, dass eigentlich beide Wege zum Open Access, die heutzutage beim goldenen bzw. beim grünen Weg hauptsächlich beschritten werden, die Entwicklung der kommerziellen Verlage fördern." Diese beiden Wege bzw. Modelle sind der goldene Weg der von den Autoren zu bezahlenden Publikationsgebühren und der grüne Weg über ein Embargo von 12 Monaten, nach dem die Artikel erst Open Access gestellt werden dürfen, meist nicht als PDF im Verlags-Layout ("the specific implementation of the gold APC model in Europe and the preference for a Green Route with a 12-month embargo in the US". T.H. 12.1.2015]: "Both these models can be seen to favour existing stakeholders, including commercial publishers." Aus Verlagssicht kann man hier auch sagen, dass sich die Verlage laufend so anpassen, dass sie weiterhin auch mit Open Access verdienen.
     
  • Janneke Adema hat im Rahmen der in Entwicklung befindlichen "Critical Keywords for the Digital Humanities" des Lüneburger Centers for Digital Culture den Text zu "Open Access" beigesteuert. Hier finden sich auch kurze Charakterisierungen zu Begriffen wie "Open" von Nathaniel Tkacz, "Copyfight" von Gary Hall u.a.
     
  • Die "Open Humanities Press", die von Gary Hall mitbegründet wurde, publiziert eine Vielzahl interessanter Produkte, z.B. sogenannte "liquid books" als Wikis mit "’Frozen‘ PDF Versions":

    Übrigens, auch das mit einem Book-Sprint erarbeitete Handbuch CoScience des Open Science Lab der TIB Hannover steht als Wiki und in PDF-Form zur Verfügung.
     

  • Für Geert Lovink bedeutet "post digital" eher "mega digital" oder "super digital", da die Zeiten des Gedruckten und Analogen so wie in der Vergangenheit nicht wiederkommen werden. Für ihn liegt Multimedia als umfassender Trend immer noch vor uns. Schaut man auf die physischen Räume und die Individuen, die im Digitalen Lernen, Forschen und Arbeiten, kommen die Transformation und die Zukunft von Bibliotheken, Buchhandlungen und Klassenräumen in den Blick. Der dritte wichtige Punkt ist für Lovink das Soziale, das im Digitalen weiterhin an Bedeutung gewinnt.
     
  • Lovinks Institute of Network Cultures gibt eine Vielzahl frei zugreifbarer Bücher heraus. Ein Beispiel ist "Society of the Query Reader: Reflections on Web Search" (Eds. René König and Miriam Rasch, Amsterdam, 2014), das interessante Kapitel wie "Why We Need an Independent Index of the Web" (Dirk Lewandowski), "Before Google: A Pre-History of Search Engines in Analogue Times" (Anton Tantner) oder "Educating for Search: Understanding the Past and Present Search
    Technology to Teach for Future Resilience" (Dave Crusoe) enthält.
     
  • Ein weiterer Titel vom Institute of Network Cultures mit Beiträgen von Teilnehmenden der Post-Digital-Scholar-Konferenz: Geert Lovink and Miriam Rasch, eds. Unlike Us Reader: Social Media Monopolies and Their Alternatives. Amsterdam: Institute of Network Cultures, 2013. (z.B. Mercedes Bunz mit "As You Like It: Critique in the Era of an Affirmative Discourse" oder David M. Berry mit "Against remediation")
     
  • Einer der erfolgreichsten Titel des Open-Access-Publishers Amsterdam University Press stammt von Mirko Tobis Schäfer und hat den Titel "Bastard Culture! How User Participation Transforms Cultural Production" (2011). Dert Titel "Players Unleashed : Modding The Sims and the Culture of Gaming" von Tanja Sihvonen (2011) ist ein XML-Projekt des Verlages. Auch der Titel "Sharing : Culture and the Economy in the Internet Age" von Philippe Aigrain passt zum Programm des Verlages und zu dieser Tagung.
     
  • Ein weiterer Open-Access-Verlag, der mir im Zuge der Nachbereitung zur Konferenz aufgefallen ist, nennt sich re.press und ist in Australien beheimatet, siehe z.B. die folgenden zwei Titel aus dem Bereich Philosophie: "Prince of Networks: Bruno Latour and Metaphysics" von Graham Harman und "What is Philosophy?: Embodiment, Signification, Ideality" von Jere O’Neill Surber.
     
  • Eine paar schöne Zitate zum Format PDF: "PDF ist not print, but not not print" (Kathleen Fitzpatrick). With pdf "all are in front of the same visuality, not of the material." (Mercedes Bunz). PDF als Format ausschlaggebend, ist "the question of control, for authors, for publishers, for the text" (David. M. Berry).
    Dazu passt ein Interview unter der Überschrift "The PDF’s Place in a History of Paper Knowledge" der Medienhistorikerin Lisa Geitelman, die 2014 das schöne Buch "Paper knowledge" veröffentlicht hat.
     
  • Beim Panel "Let us in! The central role of the library" vertraten Corinna Haas, Lambert Heller und Thomas Stäcker die Bibliotheken. Corinna Haas machte u.a. deutlich, dass in der momentanen Realität gerade für kleinere Bibliotheken auf viele digitale Quellen oft kein Zugriff besteht. Lambert betonte, dass der Fokus auf eigene Bestände heutztage nicht ausreiche, sondern dass Bibliotheken z.B. durch Unterstützung beim Publizieren auf die Nutzenden zugehen muss, die nicht auf Bibliotheksangebote warten, sondern das nutzen, was verfügbar ist, egal wo. Für Thomas Stäcker sind die wichtigsten Anforderungen an Bibliotheken der Wunsch nach Langzeitverfügbarkeit und das Angebot von Ordnung bzw. Strukturierung, was für ihn zur Forderung führte: "Hack your collection! Digitize everything, OCR it, XML-tag it". Für den vierten auf dem Podium, dem Dänen Soeren Pold, ist es die Pflicht von Wissenschaftlern, die Bibliotheken bei ihrem wichtigen Transformationsprozess zu begleiten.
     
  • Originell fand ich auch den Beitrag des in Kanada lehrenden Henry Warwick, der seine Praxis der Offline Library vorstellte und in seinem kleinen Buch "Radical Tactics of the Offline Library" (Network Notebooks 07, Institute of Network Cultures, Amsterdam, 2014 – Open access!) auch Bibliotheksgeschichte Revue passieren ließ: War die Bibliothek im Mittelalter noch so etwas wie ein Copy Center, wandelte sie sich mit dem aufkommenden Urheberrecht zu einer Art von Warenhaus. Heutzutage ist für Warwick mit gängigen USB-Festplatten eine Personal Portable Library möglich.
     
  • Die letzte Session, an der ich teilnehmen konnte, befasste sich mit dem Thema "Books as data". Dabei tauchten zwei Vortragende sogar in die Geschichte des Informationswesens ein:

     

  • Wichtige Zitate der Konferenz: "The truth is, everything is really complicated, instead of easy interfaces." (war wohl Lambert Heller). "The triangle of researchers, IT people and librarians, they should complement each other." (Thomas Stäcker via Lambo)

Insgesamt kann man sich fragen, was Publizieren heutzutage bedeutet. Für Thomas Stäcker ist dies "strukturiertes Schreiben (structural writing)". "There is a reason why publishing makes a difference." so Mercedes Bunz. Was bleibt vom Buch als Form, oder ist der Terminus "Buch" in Zukunft nur ein Synonym für eine umfangreichere Abhandlung von strukturiertem Inhalt, wie Kathleen Fitzpatrick in ihrem Vortrag fragte.

Schaut man auf die eigentliche Bedeutung des Wortes "Publizieren", heisst dies "Öffentlich machen", also offen zugänglich machen, Open Access anbieten. Damit wäre eine "kommerzielle" Publikation, bei der das Produkt verkauft wird und damit immer nur einer eingeschränkten Öffentlichkeit zur Verfügung steht, eigentlich gar keine "wirkliche" Veröffentlichung 8-).
Publizieren impliziert aber immer auch noch eine Form eines gewissen Qualitätsniveaus, einerseits hinsichtlich Inhalt, verstärkt aber immer mehr auch hinsichtlich der technischen Art und Weise des Publizierens (DOI-Nutzung, OpenURL-Fähigkeit usw.). Nicht umsonst haben solche Qualitätskriterien z.B. das Directory of Open Access Journals für die Aufnahme eines Journals in sein Directory vorgesehen. Ganz besonders wichtig werden diese technischen Aspekte, wenn es um das Wiederauffinden von Dokumenten in Zeiten des "information overload" geht.

Vielleicht sollte man neue Begriffe erfinden und in Zukunft nur das Publikation nennen, was mit einem gewissen Qualitätsniveau Open access verfügbar ist, also im rechten oberen Quadranten des Koordinatensystems (siehe Abbildung unten) erscheint. Aber wie nennt man dann die Produkte aus den anderen drei Quadranten?

Ein weiterer Aspekt des insbesondere wissenschaftlichen Publizierens ist die Frage nach dem "Betriebssystem" (Lambert!) für Wissenschaft, Forschung und Lehre (wenn man bei Letzterer hier z.B. an die sich hoffentlich immer mehr verbreitenden "Open Educational Resources" denkt). Kann man diese Infrastruktur privaten Plattformen überlassen oder sollte man nicht im Jahr 2 nach Edward Snowden über öffentlich finanzierte Modelle als Not-for-Profit-Alternativen nachdenken, zumal viele Teile des bisherigen Betriebssystems wie Bibliotheken ebenso finanziert sind?!

Grafik-Publizieren