Der Titel dieses Beitrages enthält die Titel der beiden interessantesten Bücher, die ich im letzten halben Jahr gelesen habe. Bruno Latour (Cogitamus. Edition Unseld: Vol. 38. Berlin: Suhrkamp, 2016) beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik (Rezension), während Mark Terkessidis (Kollaboration. Berlin: Suhrkamp, 2015) über zeitgemäße Formen der Zusammenarbeit, genauer das Leben von Zusammenarbeit nachdenkt.
Cogitamus
Latours sechs Briefe an eine Studentin umfassen eine Einführung in sein Denken über die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Er rät der Studentin ein „Bordtagebuch“ zu führen, um hier Ereignisse, Beispiele und deren Quellen (z.B. aus Tageszeitungen) festzuhalten, die zeigen, wie sehr wissenschaftliche Ergebnisse Einfluss auf gesellschaftlich-politische Entscheidungen haben und umgekehrt.
„Keine Information ohne Transformation.“ (S. 189)
Meine Lieblingsformulierung von Latour erinnert an meinen Lieblingssatz bei Ernst Bloch. Letztlich ist auch Latours Betonung des „Wir“ im Cogitamus, das von ihm dem kartesianischen „Cogito ergo sum“ entgegengesetzt wird, auch im berühmten Diktum Ernst Blochs zu finden: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“
Für mich ist Latours obiger Satz so etwas wie eine Formulierung der Heisenbergschen Unschärferelation auf einer anderen eher philosophischen aber auch alltagsbezogenen Ebene: Je genauer man etwas wissen will, je genauer man sich über irgendein Detail informieren will, um so mehr kann sich dieses Detail, zumindest für einen selbst, verändern.
Als anschauliches Beispiel sei der Versuch beschrieben – etwa im Rahmen von Citizen Science Aktivitäten – für ein bestimmtes Landschaftsgebiet herauszubekommen, welche Hummel- bzw. Wildbienenarten in diesem Gebiet leben. Vom Aussehen her kann man dann eventuell bei einer beobachteten Hummel sagen, dies ist wahrscheinlich eine Erd-, Garten- oder auch Steinhummel. Will man dann aber genauer wissen, ob das nun die helle oder dunkle Erdhummel ist bzw. welche Art von Hummel man vor sich hat, müsste man diese wahrscheinlich fangen, in Alkohol konservieren und unter dem Mikroskop etwa die genaue Färbung der einzelnen Segmente des Hinterleibs untersuchen. Das Beobachtungsobjekt wird also „transformiert“. 8-( 😎 Will man hier also etwas genau wissen, nimmt man den Tod des Untersuchungsobjektes in Kauf.
Andererseits verändert – ausgehend vom informiert-werdenden bzw. sich informierenden Individuum – jede Information das eigene Bewusstsein von einer bzw. das eigene Wissen über eine Sache. Bewusstsein oder Wissen werden also in einer andere „Form“ transformiert.
Jede Überführung der Wirklichkeit in eine Form von Abbildung dieser (Repräsentation der Wirklichkeit, oft verbunden mit einer Abstraktion) – diese Abbildung kann dann z.B. der Information dienen – lässt Teile dieser Wirklichkeit unberücksichtigt, betont andere usw., so dass man mit der gewonnenen Abbildung, die über die Wirklichkeit informieren soll, diese, die Wirklichkeit, auch transformiert. Denn die gewonnene Abbildung ist nun neu Teil der Wirklichkeit und kann selbst Grundlage weiterer Repräsentationen sein.
„Transportieren durch Transformieren“ (S. 30)
Nach Latour ist jede Handlung im Alltag heute von Technik und Werkzeugen bestimmt bzw. diese machen die Handlung oft überhaupt erst möglich. Dabei sind Technik bzw. Techniken immer mehr von Wissenschaften unterfüttert bzw. werden sie mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden weiterentwickelt. Diese Technik bleibt oft unbewusst oder gar unsichtbar und wird nur im Falle des Ausfalles bewusst und damit sichtbar. Damit bieten „viele Wissenschaften Anlaß zu öffentlichen Kontroversen“ (S. 60-61).
Letzterer ist für Latour ein wichtiger Begriff, betont er doch, dass neben öffentlich diskutierten Kontroversen zu wissenschaftlichen Ergebnissen gerade auch Wissenschaften intern nicht frei von diesen ist (vgl. bei Latour auch S. 75ff sowie den vorigen Beitrag in diesem Blog).
In Latours „politischer Epistmologie“ spielt auch der Begriff der Übersetzung eine Rolle, denn jede Handlung ist für ihn aus „Umwegen zusammengesetzt“ (S. 28), was oft auch zu einer Abweichung vom ursprünglichen Ziel führen kann.
Latour betont, dass „wir von Tag zu Tag deutlicher spüren, daß wir von der Unendlichkeit wieder zur Endlichkeit übergegangen sind oder vielmehr vom Unendlichen zum Vielfältigen, zum Komplizierten (compliqué), zum Verwickelten (impliqué)“ (S. 193). Je mehr man sich mit eine Sache beschäftigt, desto mehr gewinnt diese an Komplexität, werden Verbindungen zu anderen Dingen sichtbar oder wird man auf Einflüsse aus vielfältigen Richtungen aufmerksam. Man erkennt, dass nichts so einfach ist, wie es am Anfang erscheint.
Kollaboration
Dass Kollaboration etwas mit Lernen und Forschen und damit auch mit Bibliotheken zu tun hat, macht das Lesen des Werkes von Terkessidis (2015) deutlich. Für ihn verändern sich Beteiligte (dauerhaft) beim Kollaborieren, sie lernen damit. Dies gilt für kollaborierende Institutionen aber auch für die Kollaboration z. B. zwischen Angehörigen einer Bibliothek und Nutzenden, die sich beim Zusammenarbeiten im optimalen Fall alle drei verändern und voneinander lernen (vgl. auch Axel Dürkop: Über den Workshop – Kollaborieren in Forschung und Lehre, 2017).
Im ersten Kapitel des Werkes von Terkessidis „Sich entfremden“ wird die Notwendigkeit eines Außenblicks bzw. eines Perspektivwechsels hervorgehoben. Die Problematik der Repräsentation wird angesprochen, nicht nur ein politisches, sondern auch ein erkenntnistheoretisches Problem (siehe auch oben!). Das nächste Kapitel „Suchen“ steht quer zum heute gängigen Slogan „Finden ist wichtiger als Suchen“ (für Nutzende von Bibliotheken). Es betont die Bedeutung des Suchens, also auch des Fragenstellens, was heutzutage wichtiger erscheinen kann als das Finden von bereits Vorhandenem.
„Sich bilden“ als drittes Kapitel betont Vielheit und Multiperspektivität, auch dies eine Notwendigkeit für Bibliotheken, das Kapitel „Schaffen“ hebt die Bedeutung des Handelns jeden Einzelnen, seine Kreativität und Improvisationskunst hervor. Das letzte Kapitel „Kritisieren“ reflektiert über Kritik und thematisiert das Unbehagen an dieser. Bei echter Kollaboration sollte eine Kritik ohne Distanz möglich sein.
Wissenskulturen
Gemeinsames Nachdenken und Zusammenarbeiten steckt letztlich auch im Begriff der „Wissenskultur(en)“, ein Thema das Bertrand Schütz bei der diesjährigen Kleinen Nacht des wissenschaftlichen Schreibens an der TUHH behandelte. Schon im Vorjahr gab es passenderweise ja einen wissenschaftsphilosophischen Beitrag in dieser Veranstaltung, die eigentlich der Praxis des wissenschaftlichen Arbeitens gewidmet ist. Auch Otto Kruse hat, auf das wissenschaftliche Schreiben bezogen, diese kulturelle Komponente betont: Man sollte dieses, Kruse meint hier das Schreiben, „[…] nicht primär als individuelle Handlung, sondern als Handlung in einem Raum diskursiver Praktiken und kollektiver Bedeutungskonstruktion [verstehen …], als eine Art Akkulturierungsprozess, der die Studierenden in die disziplinären Forschungs- und Denk- und Kommunikationskulturen einführt und sie zu Mitgliedern einer Wissensgemeinschaft macht“ (Wissenschaftliches Schreiben und studentisches Lernen. Zürich: Hochschuldidaktik UZH 2012, S. 7).
Eine Open Access verfügbare Übersicht über die Geschichte des Begriffes Wissenskultur bietet der Beitrag von Claus Zittel mit dem Titel „Wissenskulturen, Wissensgeschichte und historische Epistemologie“ (Rivista internazionale di Filosofia e Psicologia 5 (2014) 1, 29-42).
Schütz diskutierte das Thema Wissenskulturen anhand von Textausschnitten u.a. von Ian Hacking, Ludwik Fleck, Hans-Jörg Rheinberger und Karin Knorr Cetina. Die meisten Schriften dieser Wissenschaftsphilosophen betonen die Bedeutung der Praxis bzw. des Experiments für die wissenschaftliche Theorienbildung, wobei oft das, was praktisch in der wissenschaftlichen Arbeit passiert, später durchaus anders dargestellt und kommuniziert werden kann.
Betont wurde also von Schütz die Bedeutung der Darstellung (Repräsentation) in der Wissenschaft. Das Begreifen von Wirklichkeit in der Wissenschaft erzeuge erst die Tat-Sachen. Erkenntnis ist also eine Aktivität, die über Beobachtung und Experiment offen für Überraschungen sein sollte. Es entstehen nur dann neue Erkenntnisse, wenn das dahinter stehende Subjekt mit der Wirklichkeit „zusammenarbeitet“. Diese und ihre Objekte führen durchaus ein „Eigenleben“ (Hacking). Das „Denkkollektiv“ von Fleck betont „die demokratische Verfasstheit von Wissenschaft“ (Schütz, vgl. auch das spannende Interview mit Rheinberger: Experimenteller Geist : Epistemische Dinge, technische Objekte, Infrastrukturen der Forschung. Lettre International 2016, 112, 114-121, hier S. 116, 3. Spalte) und ist vielleicht mit ein Ursprung für Latours Cogitamus, wobei bei Latour auch die nicht-menschlischen Akteure beim Erkenntnisprozess, der für ihn letztlich ein Aushandeln ist, eine Rolle spielen. Gabi Reinmann hat sich gerade in ihren Blog öfters mit Fleck beschäftigt.
Indem Schütz den Plural von Wissenskulturen benutzt, betont er einerseits, dass es in jeder der vielen Wissenschaften und Disziplinen unterschiedliche Wege und Gebräuche der Kommunikation, der Methoden usw. gibt. Andererseits weist der Plural darauf hin, dass in der Geschichte der Wissenschaften nicht nur die europäisch-westliche Kultur eine große Rolle spielte, sondern z.B. die islamisch-arabischen Wissenschaften die Überlieferung der Erkenntnisse der Antike überhaupt erst ermöglichten bzw. die indisch-asiatischen Wissenschaften Einfluss auf die Hochkultur der Antike hatten. Und heutzutage ist angesichts mancher wissenschaftsfeindlicher Tendenzen in den westlichen Staaten offen, in welchen Teilen der Erde das Wissen entstehen wird (und dies entsteht vielleicht nicht nur in den Wissenschaften), das ein gemeinsames Überleben aller Menschen in Würde und mit Teilhabe zumindest als Möglichkeit erscheinen lässt. Sorry, der letzte Satz wirkt sicher nicht sehr optimistisch.