Was ist Bildung – für Paulo Freire?

Das Zitat von Ludwig Wittgenstein zum Stellenwert von Wissenschaft und Forschung in unserer Lebenswelt im letzten Beitrag in diesem Blog möchte ich nun einem Zitat des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire in seinem letzten, 1996 geschriebenen und 2008 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „Pädagogik ohne Autonomie : Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis“ (Waxmann) gegenüberstellen.

„Genau das ist die Aufgabe der Wissenschaft, bei der sie sich ohne gesunden Menschenverstand des Wissenschaftlers von der Sache entfernen oder sich verlieren kann. Ich zweifle nicht am Misserfolg eines Wissenschaftlers, dem es an der Fähigkeit mangelt, Dinge vorherzuahnen, zu erkennen, dass der Schein trügen kann, Zweifel zuzulassen, rastlos weiterzuforschen, da er der Gewissheiten nicht allzu sicher ist. Mich macht ein Wissenschaftler traurig, – und manchmal macht er mir auch Angst -, der sich seiner selbst allzu sicher ist, der meint, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, und nicht einmal eine Ahnung von der Vergänglichkeit seines eigenen Wissens hat.“ (S.59)

Bisher erschienen mir Bücher von Freire für mich nicht so richtig zugänglich, eventuell aufgrund mancher Wiederholungen in den Texten und des mir nicht immer geläufigen Kontextes seiner Betrachtungen. In dem hier zitierten Buch von Freire, das ich erst vor Kurzem entdeckt und gelesen habe, finde ich viele Sätze, die genau meinem Verständnis von Bildung, was für mich Lehren, Lernen und Bildung ausmacht, entsprechen – einem Verständnis, das ich selbst als Lehrender zumindest rudimentär versuche zu erreichen.

„Lehren [heisst nicht], Wissen weiterzugeben, sondern Möglichkeiten zu schaffen, Wissen zu erzeugen oder zu bilden. […] Wer lehrt, lernt beim Lehren, und wer lernt, lehrt beim Lernen. […] Das Lernen kam vor dem Lehren oder, in anderen Worten, das Lehren löste sich in der existentiellen Erfahrung des Lernens auf.“ (S. 24-25)

Bei Freire findet sich folgendes Plädoyer für Offenheit, die letztlich Teil von Bildung ist:

„Daher sage ich noch einmal, dass es unvermeidlich ist, radikal offen zu sein, sich selbst, anderen und der Welt gegenüber. Offen zu sein gegenüber dem anderen und gegenüber der Welt als solcher und mich dabei auf radikale Weise als kulturelles und historisches Wesen zu erfahren, unvollkommen und meiner Unvollkommenheit bewusst“ (S. 47)
„Auf der Unvollkommenheit des Wesens, das sich selbst als unvollkommen versteht, gründet sich Bildung als permanenter Prozess.“ (S. 55)
„Bildung als spezifisch menschliche Erfahrung [ist] eine Form des Eingreifens in das Weltgeschehen […]. (S. 91)

Zum Zusammenhang zwischen Kommunikation, Lernen und Erkenntnis:

„Ohne die Möglichkeit des Mitteilens gibt es kein Begreifen der Wirklichkeit.“ (S. 108)
„‚[D]ie Welt lesen‘ [… geht] dem ‚Worte-Lesen‘ stets voraus […]“ (S. 75)
„[Der Lernende übernimmt] von einem gewissen Moment an auch die Autorenschaft der Objekterkenntnis.“ (S. 113)

Dass Bildung viel mit epistemologischen Aspekten zusammenhängt – Freire spricht oft von „epistemologischer Neugierde“,(S. 26 und 39) die beim kritischen Lernen entsteht -, wird in einem weiteren Aufsatz von Freire mit dem Titel „Bildung als Erkenntnissituation“ in einem anderen Band mit Texten von Freire (Unterdrückung und Befreiung. Waxmann, 2007, S. 67-88) deutlich. Für Freire hat Bildung ihren Ausgangspunkt in der Mensch-Welt-Beziehung, d.h. der Mensch ist als Subjekt und „bewußtes Wesen“ in „permanenter Aueinandersetzung mit der Wirklichkeit“ (S.67). Dabei sind Mensch und Welt in einer Beziehung gegenseitiger Möglichkeiten der Veränderung und deren Problematisierung.

„Für uns ist ‚Bildung als Praxis der Freiheit‘ vor allem und in erster Linie eine wahrhafte Erkenntnissituation, in der der Erkenntnisakt nicht im erkennbaren Objekt sein Ende findet, da er sich anderen, ebenfalls erkennbaren Subjekten mitteilt. Lehrende-Lernende und Lernende-Lehrende stehen in einem befreiende Bildunsgprozeß beide als erkennende Subjekte den sie einander vermittelnden Objekten gegenüber. [… Unterricht ist] eine Begegnung, in der Erkenntnis gesucht und nicht übertragen wird. [… Daher ist] seine [des Lehrenden] Tätigkeit ein permanenter Erkenntnisakt.“ (S. 72, 73)

„[Bildung ist die] Beziehung zwischen erkennenden, durch das Erkenntnisobjekt einander vermittelten Subjekten […,] in der der Lehrer seinen Erkenntnisakt ständig von neuem vollzieht […]“ (S. 75)

[…] Bildung als Erkenntnissituation bedeutet, den Inhalt als Problem zu formulieren, auf den Lehrende und Lernende als Subjekte der Erkenntnis gemeinsam ihre Intention richten.“ (S. 79)

Schade, dass Freire in einer aktuellen und fundierten Übersicht über Bildungstheorien (Rieger-Ladich, M. (2019). Bildungstheorien zur Einführung. Hamburg: Junius-Verlag, – Rezension bei H/Soz/Kult) nicht erwähnt wird.

Das Buch von Markus Rieger-Ladich beginnt übrigens im ersten Teil der Einleitung ganz im Sinne der letzten Texte in diesem Blog mit der Frage, was eigentlich Wissenschaft ausmache, wie wissenschaftliche Forschung funktioniere, wer von welchem Standpunkt aus mit welchem Interesse welche wissenschaftlichen (und damit auch welche gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen) Herausforderungen behandelt bzw. erforscht (S. 11).

Neben dem polnischen Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck wird hier besonders auf die Naturwissenschaftshistorikerin und Frauenforscherin Donna Haraway Bezug genommen, von der ich vor Kurzem einen solchen schönen Satz gelesen habe wie

„‚Epistemologie‘ heißt, die Differenz zu erkennen.“
(Haraway, D. J. (1995). Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen (C. Hammer & I. Stiess, Hrsg.). Frankfurt a.M.: Campus-Verl., S. 48)

Dieses Zitat passt zu meine Sicht auf den Zusammenhang zwischen Information und Erkenntnistheorie, wie dieser durch andere Zitate – etwa wie „Informieren heisst Differenzen bestimmen.“ (Châtelet, F. (1975). Einleitung. In: Das XX. Jahrhundert. Frankfurt (M.): Ullstein. S. 7–11, S. 10) und „Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht.“ (Bateson, G. (1985). Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologi-sche, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 582) weiter verdeutlicht wird.