Was es heisst, Informationskompetenz kritisch zu sehen

Was heisst es genau, wenn man Informationskompetenz kritisch sieht? Schaut man nämlich genauer hin, lassen sich verschiedene Ebenen und Aspekte unterscheiden, und es gibt ganz verschiedene kritische Sichten auf Informationskompetenz. Auf ein paar von diesen soll hier hingewiesen werden.

Eigentlich wollte ich einen Beitrag schreiben für einen durch die Gemeinsame Kommission Informationskompetenz von VDB und dbv publizierten „Call for Papers: Themenschwerpunkt Informationskompetenz“ zu einem Themenheft der Zeitschrift o-bib. Denn gewünscht wurden „auch durchaus provokative Beiträge […], die neue Impulse in die Diskussion um die Förderung von Informationskompetenz in Deutschland einbringen“. Und weiter heisst es, daß „bereits der Titel aus einer aussagekräftigen These bestehen [kann], die dann im Text ausgeführt wird.“ Toll, Kritik und Kreativität sind also gefragt. Für mich war bei den möglichen Themen, „E-Learning und Gaming, Referenzrahmen und Schwellenkonzepte, IK und Forschungsdaten, Evaluation und Assessment, neue Zielgruppen und Kooperationen, Qualifikationsprofil und Ausbildung, Raumkonzepte, Netzwerke und neue biblio­thekarische Wege“ nichts wirklich Provokatives dabei. Ich bin sehr gespannt auf die Aufsätze des Themenheftes. Aus diversen Gründen schaffte ich es leider nicht, einen formalen Aufsatz zu verfassen, daher dieser Blog-Beitrag, der die Frage der Kritik im Rahmen von Informationskompetenz aufnimmt.

Kritische Sichten

Die Diskussion zu einer kritischen Sicht auf Informationskompetenz (Critical Information Literacy = CIL) nimmt, international gesehen, immer mehr zu. Ein aktuelles Review zur CIL stammt von Eamon Tewell.

CIL ist auch als Teil der sogenannten critlib-Bewegung zu sehen. Hinweise auf Literatur zu dieser bietet eine Zotero-Gruppe dieser Gruppe. Eine ähnliche britische Gruppe nennt sich Radical Librarians Collective. Schon lange bekannt ist die Progressive Librarians Guild, die schon seit Jahrzehnten eine eigene Zeitschrift herausgibt. In Deutschland zählt der Arbeitskreis Kritische Bibliothek zu dieser Bewegung, in Österreich der Arbeitskreis kritischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare (KRIBIBI).

„Kritisch“ als Begriff hat ja nach dem Griechischen ursprünglich etwas mit scheiden, urteilen bzw. auch unterscheiden zu tun (siehe auch meinen Text in der 2. Auflage des Handbuch Informationskompetenz). Auch die Nähe von Kritik zu Information ist deutlich, wenn man an die bekannte Definition von Bateson denkt: „Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht.“ Ein anderer französischer Philosoph schreibt „Informieren heisst Differenzen bestimmen“ (François Châtelet, 1975) und drückt damit aus, dass eine der Leitmetaphern unserer heutigen Gesellschaft mit Differenz verbunden ist. Ohne Information und damit Differenz ist ein Erkennen, Verarbeiten und damit Aushalten von Unterschieden nicht möglich. Das Zusammenspiel von Information, Kommunikation und Wissen ist eines der wichtigsten Phänomene von Dienstleistungen, Management, Politik und Gesellschaft im Zeitalter der Digitalisierung. Nur Information kann Vielfalt in der Differenz erhalten.

Zu allgemeinen Aspekten des Themas Diversität und Differenz findet man ein sehr schönes Interview mit der Philosophin Steffi Hobuß im Startwochenjournal der Leuphana Universität Lüneburg. Auch das taz.lab hatte sich im April 2016 dem Thema Differenz verschrieben.

Kritisch sein heisst auch zweifeln und hinterfragen, z.B. nach dem „Wozu?“ Kritik ist gleichzeitig – wie Rahel Jaeggi schreibt (Das Ende der Besserwisser : eine Verteidigung der Kritik in elf Schritten. In: Das Kursbuch. Wozu? /hrsg. Armin Nassehi, … 2015, Kursbuch 182, S.78-96, hier S. 85) – Dissoziation wie Assoziation (der Chemiker in mir jubelt! 😎 ), sie unterscheidet, trennt, distanziert, verbindet, setzt in Beziehung und stellt Zusammenhänge her. Oder wie der Kursbuch-Herausgeber schreibt: Kritik kann dafür „sorgen, dass die Dinge auch anders sein können.“ (Armin Nasssehi: Mehr Kritik, bitte! In: Das Kursbuch. Wozu? /hrsg. Armin Nassehi, … 2015, Kursbuch 182, S.40-58, hier S. 57)

Was umfasst nun also eine kritische Sicht auf Informationskompetenz von, in bzw. aus Bibliotheken?

  • Zunächst kann man infragestellen, warum gerade Bibliotheken von Bedeutung für dieses Thema sind. Die moderne, immer digitaler werdende Welt erfordert Informationskompetenz auf allen Ebenen und ist auch und gerade für Schule, Ausbildung und Hochschule aber auch Arbeitsplatz und Alltag von Relevanz. Bibliotheken als Anbieter von Informations-Infrastrukturen müssen ihre Angebote (Suchmaschinen, Kataloge, Webseiten usw.) so gestalten, dass für deren Benutzung nichts „gelernt“ werden muss.
  • Eine kritische Sicht auf IK umfasst ein Hinterfragen der Begriffe. Information und auch Kompetenz werden von unterschiedlichsten Menschen, Gemeinschaften, Institutionen usw. unterschiedlich verstanden. Dienen Kompetenzen nur dazu am Arbeitsplatz zu funktionieren? Sind Software und Technik ein Ausweg aus einer „Kompetenzkatastrophe„? Kann man Kompetenzen lernen oder entstehen diese quasi von selbst beim praktischen Lernen und arbeiten? (In einem Workshop mit dem Titel „Wie digital ist Informationskompetenz?“ hatte ich letztes Jahr mal ausprobiert, das gängige Verständnis von Informationskompetenz zu diskutieren und zu hinterfragen.)
  • Ein Perspektivwechsel gehört zu einer kritischen Sicht. So ist es z.B. interessant, eine gerade erschienene Studie „Rethinking the concept of „information literacy: a German perspective“ des amerikanischen Kollegen Rares G. Piloiu zu lesen, der die deutsche Diskussion zur IK als durchaus bereichernd für das amerikanische Bibliothekswesen empfindet. Hier erscheint die deutsche Diskussion als solche schon als kritisches Pendant zur Entwicklung in den Staaten:

    „[T]he German notion of information literacy is still negotiated on an interdisciplinary market of ideas ranging from communication science to didactics and from cultural anthropology to epistemology. An awareness of this international perspective on information literacy is timely, given the recent debates about the legitimacy of the radically new approach to information literacy put forth in the ACRL Framework.[…]
    [T]he multiplicity of concepts that the German academic landscape offers allows the teachers and students alike to understand the complex and contextual nature of the idea of information literacy in general. By entertaining a variety of alternative concepts and terms for “information literacy”, the German academic world acknowledges that we are using a concept with variable geometry, one that is relative to our own changing understanding of what it means to be a competent information user and creator.“

  • Man kann aus aus Sicht der kritischen Pädagogik auf das Thema Informationskompetenz schauen, z.B. mit einem Blick von Lane Wilkinson auf Paolo Freire. Auch der Franzose Rancière wäre hier interessant.
  • Kritische Informationskompetenz umfasst auch einen Blick auf Information als Ware. Im akademischen Bereich macht CIL die wechselseitigen sozio-ökonomischen Abhängigkeiten der Beteiligten, Autoren, Datenbankanbieter, Verlage, Bibliotheken usw. bewusst, aber auch dass heutzutage das eigene Informationsverhalten – der Umgang mit der Ware Information – selbst zur Ware wird. Welche Funktion haben die Beteiligten, wie kann diese verändert werden? Ist Informationskompetenz vor allem notwendig, um in der digitalen Dienstleistungsgesellschaft bestehen zu können? Bei Schlagworten wie Offenheit und Open Access schwingt immer auch mit, dass Information möglicht frei als Ware zirkulieren kann, um Geld damit zu verdienen, wie es z.B. Verlage mit Open Access machen.
  • Und man kann Informationskompetenz schlicht als kritisches Denken beschreiben. oder mit Peter Tagtmeyer (Colgate Univ.) „information literacy is the practice of social epistemology“ (via ILI-L kam der Hinweis auf dieses Google-Docs-Dokument). Dies geht in Richtung meines letzten Beitrages im Handbuch Informationskompetenz (Preprint) oder auch des neuen Buches von Anderson und Johnston, das am Ende eines anderen Beitrages in diesem Blog schon erwähnt wurde und auch den Zusammenhang zur „social epistemology“ thematisiert.

Unterscheidungen zwischen kritischen und klassischen Sichten auf Informationskompetenz

Man kann schon das neue Framework for Information Literacy der ACRL als eine kritische Sicht auf Informationskompetenz ansehen:

Informationskompetenz klassisch Informationskompetenz kritisch
  • Information finden
  • Information bewerten
  • Information nutzen
  • Wie wird Information geschaffen?
  • Wie wird Information verbreitet bzw. auf sie zugegriffen?
  • Wie funktioniert wissenschaftliche Kommunikation?

Nach: CIL at the Pfau Library (California State University San Bernardino). Critical Information Literacy (CIL) versus Traditional Information Literacy.

Auch in dem neuen Aufsatz von Spiranec, Banek Zorica und Kos (nicht Open Access, siehe die bibliografischen Angaben unten) findet sich eine Abbildung mit einer Gegenüberstellung von klassischer und kritischer Informationskompetenz. Mir erscheint dies etwas zu gegensätzlich. Ich finde die drei Sichten auf Informationkompetenz von C. Addison & E. Meyers (2013, Perspectives on information literacy: a framework for conceptual understanding. Information research 18, 3) etwas inspirierender. Auch A. Whitworth (2013, The Design of Media and Information Literacy. In: Media and Information Literacy for Knowledge Societies. Moscow: Interregional Library Cooperation Centre, 2013. 40-54. S. 47) unterscheidet drei Sichten. Ich habe aus diesen drei Beiträgen mal eine Zusammenfassung aus meiner Sicht gemacht, die verdeutlichen soll, dass zwischen verschiedenen Sichten auf Informationskompetenz fließende Übergänge existieren:

Sichten auf Informationskompetenz – zwischen klassischer und kritischer Informationskompetenz

Mehr oder weniger interessante Dokumente zur CIL

Ein paar Aufsätze und Blog-Beiträge

Neuere Monografien

  • Downey, A. 1. (2016). Critical information literacy. Sacramento, CA: Library Juice Press.
  • Anderson, A., & Johnston, B. (2016). From information literacy to social epistemology. Amsterdam: Elsevier.
  • Nicole Pagowsky & Kelly McElroy, Eds. (2016). Critical Library Pedagogy Handbook : Essays and Workbook Activities. Chicago, IL : ACRL.
  • McNicol, S. (2016). Critical literacy for information professionals. London: Facet Publishing.
  • Swanson, T. A., & Jagman, H. (2015). Not just where to click. Chicago: ACRL.
  • Whitworth, A. (2014). Radical information literacy. Amsterdam: Elsevier, Chandos.

Aktuellere Dissertationen zu CIL

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