Veränderungen – zwischen Nicht und Noch-Nicht

„Zwischen Nicht und Noch-Nicht – zwischen vorzeitigen Nachrufen und konkreten Utopien“ – so lautete mal ein Blog-Beitrag von mir zur Lage wissenschaftlicher Bibliotheken, nun passt das auch auf mich persönlich.

Die folgenden Sätze hatte ich so oder so ähnlich im Rahmen meiner Verabschiedung aus dem Bibliotheksdienst an der Bibliothek der TU Hamburg (tub.) im März 2021 gesagt. „Alte weiße Männer“ reden ja bekanntlich öfters etwas länger. 😎 Zudem fördern es einschneidende persönliche Veränderungen sich Gedanken über die eigene Geschichte zu machen, sich an vergangene Aspekte zu erinnern bzw. neu bewusst zu machen. So ist es mir jedenfalls gegangen. Nun im Mai 2021 bin ich offiziell im Ruhestand.

Das „Nicht“ verstanden als „Noch-Nicht“ stammt vom Philosophen der Hoffnung, von Ernst Bloch. Für Bloch ist das Nicht kein „Nichts“ sondern ein Noch-Nicht und damit mit Veränderung und mit Zukunft sowie mit Hoffnung verbunden. Auch für mein Gefühl zur Zeit und wohl auch in der nahen Zukunft ist das Kommende ein Noch-Nicht aber auch eine Zeit der Ungleichzeitigkeit, auch ein Begriff u.a. von Bloch inspiriert.

Meine Situation ist also offen, eine nicht nur im Bibliothekswesen zur Zeit sehr populäre Situation, ähnlich wie die des Mönches, den ich im Rahmen eines Vortrages (s. 3. Folie) mal gespielt habe. Offen kann im Lateinischen auch als „liber“ übersetzt werden, was ja auch Buch, Schriftstück (das Englische library!), aber auch frei bedeutet.

Dass die Lage von Bibliotheken im – ich möchte das hier einfach mal so nennen – Ökosystem der wissenschaftlichen Kommunikation nicht immer positiv gewendet sein kann, zeigen die Bilder einer schwedischen Klosterruine in den oben verlinkten Folien. Zum Thema Bibliothek gleich mehr.

Es folgt ein kleiner Rückblick auf für mich entscheidende berufliche Jahre, wichtige Zeiträume und Themen der Vergangenheit und Gegenwart.

Nach Studium (Chemie / Mathematik für das Lehramt) und im Schulreferendariat letztlich nach dem Scheitern als Lehrer kam bei mir das Bibliotheksreferendariat. Eine der ersten, prägenden (?! 😎 ) Regeln in meiner praktischen Ausbildung an der TU Berlin, die mir ein Fachreferent dort beibrachte, war übrigens der Satz „Hast Du heut noch nicht gelogen, greif zum Zeiterfassungsbogen“. 😎

Die ersten Jahre an der TU-Bibliothek ab 1988 waren geprägt von klassischen Fachreferats-Tätigkeiten (Erwerbungsauswahl, Sacherschließung), Online-Recherchen via Modem mit spezifischen Retrievalsprachen je nach Datenbankanbieter, aber auch von Umzügen – bin dabei selbst sogar mal einen 7,5 Tonner gefahren, die 1991 in den Umzug in unser heutiges Gebäude mündeten. Es war für mich auch eine Zeit der Ausstellungen in der tub. 😎

Am wichtigsten für mich persönlich waren die Jahre 1993 bis 1995. So bekam ich im Jahre 1993 das erste Mal eine eMail-Adresse – als zweiter in der tub. Die von der Bibliothek organisierte IATUL-Tagung 1993 an der TUHH machte mir deutlich, wie wichtig die praktische Nutzung der englischen Sprache ist, was ich danach intensiv weiter verfolgte. Drittens hielt ich im Jahre 1993 beim Seminar des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheksgeschichte meinen ersten Vortrag über Wilhelm Ostwald, einen chemischen Nobel-Preisträger, der 1911 eine Organisation mit gründete, die das Weltwissen auf Karteikarten sammeln wollte. 😎

1994 hatte die TU-Bibliothek durch das Engagement des an der TU-Bibliothek wirkenden Begründers der Mailing-Liste Inetbib ihre erste Präsenz im World Wide Web, vorher waren Informationen der tub. in einem Informationssystem mit dem Namen Gopher verfügbar.

1995 veränderte für mich Vieles durch die Übernahme der Leitung der tub. durch Inken Feldsien-Sudhaus. Ohne sie wäre ich nicht der geworden, der ich heute bin. Die durch sie unterstützten weiteren Vortragsreisen meistens zum Thema Ostwald und zur Informationsgeschichte, so war ich dreimal in die Staaten, schärften meinen Blick auch für spezifische Entwicklungen im Bibliotheksbereich, sei es das Thema Informationskompetenz oder die Herausforderung der Digitalisierung oder das für Inken immer wichtige Thema von Lernräumen.

Durch Fotos erinnerte ich mich an Betriebsausflüge, Sommerfeste, Jubiläen und diverse weitere Veranstaltungen wie etwa Nächte des Wissens, Kleine Nacht des wissenschaftlichen Schreibens, Kinderforscher, Seminare zum wissenschaftlichen Arbeiten und zur Open-Access-Woche.

Inhaltlich wichtig war in der Zeit nach 1995 für mich die Frage der Lokalsysteme, dabei die recht komplexen Migrationen gerade der bibliografischen Daten vom Norddeutschen zum Gemeinsamen Bibliotheksverbund, vom Lokalsystem von SISIS zum Pica-LBS, und so begannen meine GBV-Jahre 1997-2008, in denen ich in zwei Facharbeitsgruppen (jeweils 6 Jahre in der FAG Lokale Geschäftsgänge und der FAG Erschließung und Informationsvermittlung) die tub. vertreten durfte.

Die Projekt-Jahre ab 2005 begannen mit den sogenannten ELCH-Projekten (E-Learning Consortium Hamburg) beginnend mit DISCUS, später dann VISION und StudiPort 2.0 (Im Netz kaum noch was von den Ergebnissen des Projektes etwa als Projektbericht verfügbar, vgl. aber diesen Blog hier) bis zu meinem Dabeisein von den Anfängen bei der HOOU bis heute. Nicht zu vergessen auch das BMBF-Projekt BibTutor mit Bibliotheken aus Kaiserlautern, dazu dem dortigen Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) sowie Bibliotheken aus Heidelberg und Darmstadt.

Externe Veranstaltungen, die ich mit organisieren durfte, betrafen bis zum Jahre 2011 etwa Fortbildungsveranstaltungen der AG Fachreferat Naturwissenschaften (AGFN). Auch bei der Organisation des 4. Bibcamp 2011 an der HAW Hamburg war ich mit dabei, fast genau 10 Jahre her, und am ersten Tag dieses Treffens passierte Fukushima, was sich im Zusammenhang mit diesem Treffen in meiner Erinnerung „eingebrannt“ hat.

Meine schon erwähnten Vortragsreisen nach Pittsburg, Philadelphia und Urbana-Champaign in den Staaten sowie nach Belgien, Wien, Zürich und anderswo ermöglichten mir Begegnungen mit vielen Kolleginnen und Kollegen, die mir bis heute wichtig sind. Besonders hervorheben möchte ich die mit dem Philosophen Jürgen Mittelstraß in Großbothen (Sachsen) im Rahmen einer Ostwald-Tagung, dem Computerwissenschaftler Josef Weizenbaum bei einer Tagung in der Nähe von Gotha sowie mehrfach mit den beiden, die mich im Gebiet der Informationsgeschichte massiv unterstützt haben, den Informationswissenschaftlern Michael Buckland und Boyd Rayward

(Auf der ‚Metaebene‘ 😎 wird mir gerade bewusst, auch dies alles „alte weiße Männer“, sorry! 8-( ). Als Ausgleich 😎 sei mein Besuch an der University of Illinois Urbana-Champaign im Jahre 2005 erwähnt, wo sich eine Erinnerungstafel an der Chemie-Bibliothek der University Library befindet, die Marion E. Sparks gewidmet ist, die 1919 den ersten Literaturführer zur Chemie publiziert hatte, für mich ein Vorbild in meiner bisherigen Funktion als Fachreferent für Chemie und Verfahrenstechnik.

Ich komme nun noch zu zwei Themen, die mir immer wichtig waren.

Kompetenz
In den Wochen vor meinem Ausscheiden hatte ich ja meine Kompetenzen zu nutzen, um diese weiter zu geben. Eigentlich geht das für mich nicht. Viele die dies lesen wissen, dass der Begriff Kompetenz, besonders Informationskompetenz, einer ist, an dem ich mich gern abarbeite. 😎

Kompetenzen entstehen ja durch die Fähigkeit zur „Selbstentdeckung und -Erprobung“. Sie sind nicht „absolut und kontextneutral einer Person zugeordnet“, sondern entwickeln sich in den jeweiligen sozialen und Handlungs-Feldern interaktiv. Eigentlich sind Kompetenzen so was Ähnliches wie ein Plug-In, immer dann, wenn man handelt und sie braucht, ist die Frage, ob solch ein Plug-In zur Verfügung steht, zur Not muss es schnell installiert werden oder man muss gar selbst eines programmieren. Für mich war solch ein Plug-In oft auch jemand aus dem Kreis meiner Kolleg*innen.

Schön finde ich den Begriff Inkompetenzkompensationskompetenz, den ich auch oft für mich in Anspruch nehme. Die Vielfalt der Anforderungen im heutigen (Bibliotheks-)Alltag können einzelne Personen heute nur mit dieser Metakompetenz sowie mit Hilfe eines guten Teams und einer aktiven Community bewältigen. Man muss bereit sein, Nichtwissen und Inkompetenz zuzugeben und sich Rat von anderen holen. Diesen habe ich an der tub. eigentlich immer gefunden, wofür ich all eminen Kolleg*innen dort danke.

Bibliothek
Ich gehörte ja als Stellvertreter der Direktorin auch immer zur Leitung einer Bibliothek. Und ‚Wahrnehmen von Leitung‘ bedeutet immer zweierlei, einerseits wie ich selbst meine Leitungsposition wahrnehme, also aktiv gestalte, oder andererseits wie diese von anderen Menschen wahrgenommen wird. Alle von uns haben ihre eigenen Landkarten der Landschaft oder des Ökosystems einer Organisation wie etwa einer Bibliothek, ihre jeweilige Sicht. Und das gilt ganz sicher auch für meine eigene, die ja „von Oben“ erfolgte.

Meine Landkarte war sicher zu oft geprägt von „Unsicherheit“, wobei ich auch versucht habe, diese positiv zu nutzen. Manchmal kam dabei sicher auch meine Sozialisation als Lehrer zu sehr zum Vorschein, wie vielleicht auch jetzt bei all diesen Sätzen. Ich habe erst relativ recht spät gelernt, den Mut zu haben, zu mir und meinen Gefühlen zu stehen.

Von meinem Vater, der nach dem Einzug zum Militär mit 18 Jahren nach drei Jahren Krieg und drei Jahren russischer Gefangenschaft 1948 nach Berlin zurückkam, habe ich gelernt, aus Allem möglichst etwas Positives für sich zu machen bzw. in Allem etwas Positives zu sehen. Von meiner Mutter, die als 18-Jährige im Luftschutzkeller die Zerstörung ihres Wohnhauses über ihr überlebte, habe ich eine eher ängstliche Grundhaltung „gelernt“, die aber positiv genutzt bei mir vielleicht auch dazu führte, mich und mein Verhalten ständig, manchmal auch zu viel, 😎 zu hinterfragen und dann zu versuchen sich ggf. auch zu verändern, was nie einfach ist.

Heute ist unsere Lage, nicht nur von Bibliotheken sondern eigentlich überall, geprägt von Vielfalt und Verschiedenheit, mannigfachen Abhängigkeiten und Zusammenhängen, vom Gegensatz zwischen lokal und global sowie von kontinuierlicher Weiterentwicklung. Bibliotheken gehören für mich aber immer noch zu einer Schlüsselart im Ökosystem der wissenschaftlichen Kommunikation. Sie ermöglichen Artenvielfalt und verhindern die Verdrängung schwächerer Arten durch Mono-Kulturen.

Für mich ist auch eine Institution wie eine Bibliothek selbst eine Art Ökosystem, also wie jede Organisation ein systemisches Gebilde. „Nichts existiert unabhängig“ – dieses Motto zum empfehlenswerten Film „But beautiful“ – passt auch auf jede/n einzelne/n in einer jeweiligen Bibliothek. Ich bin mir sicher, dass mein Ausscheiden wie jede (andere) Veränderung neue Chancen für das System bietet, so etwa anderen die Chance meinen Raum, den ich bisher „besetzt“ habe, einzunehmen und mit anderen, neuen Akzenten zu versehen oder auch ganz neu aufzubauen, oder auch um- oder abzubauen. Ich bin mir sicher, dass dies auch an der TU-Bibliothek in positivem Sinne passieren wird. Wie in jedem Ökosystem werden vorhandene Nischen neu gestaltet und verändert oder sie verschwinden.

Zum Schluss steht auch in diesem Text ein Danke an alle Kolleginnen und Kollegen, sowohl in Hamburg an der TUHH aber auch an die vielen anderen, die ich kennenlernen durfte. Man kann selbst nur etwas anregen durch Inspirationen anderer sowie durch ein passendes Umfeld mit entsprechendem Freiraum. Diese(s) hatte ich an der TU-Bibliothek aber auch darüber hinaus!

Zwei Jahre früher gehe ich in den Ruhestand als von mir zunächst „geplant“, aber Zeit ist einfach zu kostbar, als dass ich sie mit meiner Arbeit an der TU-Bibliothek in Hamburg verbringen will, sorry! 😎 Wobei ich betonen möchte, dass mir bewusst ist, in was für eine Komfortzone ich lebe. Gerade Corona hat mir dies nochmal deutlich gemacht und gleichzeitig den Schritt erleichtert.

Beim 40-jährigen Jubiläum meines Abi-Jahrgangs 2016 hat mich ein Schulfreund gefragt, was ich vorhabe, wenn ich mal in den Ruhestand gehe. Ich konnte ihm das nicht sagen und ich habe schon damals für mich beschlossen, dass dies gut ist, denn ich habe bisher eigentlich in meinem Leben viel mehr (familiär, beruflich, wissenschaftlich etc.) erreicht, als ich es mir als junger Erwachsener je erträumt hatte.

Eventuell werde ich mehr zum Schreiben in diesem Blog oder darüber hinaus kommen, aber ohne Druck oder nur durch den, den man sich selbst macht. 😎 Auch das Fotografieren wird sicher weiter „ausgebaut“ werden. „Aufräumen“ gemachter Fotos, im eigenen Kopf sowie das Aufräumen gesammelter Notizen werden sicher auch irgendwie kreativ wirken.

Das Thema, was mich aber zur Zeit und auch schon lange vorher am meisten beschäftigt, ist der Umgang von uns allen mit den laufenden oder kommenden Krisen, wobei mir besonders das Klima und die damit und dem Naturschutz verbundene Biodiversität am Herzen liegt. Die gerade erschienene Ausgabe von „Weitblick : Zeitung für eine global gerechte und zukunftsfähige Politik“ der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch, die ich schon in einem meiner letzten Aufsätze erwähnt hatte, wirkt für mich in dieser Hinsicht sehr motivierend (vgl. auch die Zitate auf meinem Lesezeichen zum Jahreswechsel nach 2021 und meine Gedanken dazu).

Frei nach einem der letzten Gedichte der jüdischen Dichterin Rose Ausländer (vgl. https://taz.de/Gedichteschreiben-nach-Auschwitz/!5471572 ) möchte ich diesen Beitrag schließen:

„Mein Bibliothekstraum
lebt,
mein Leben in der Bibliothek
zu Ende.“

Nochmals danke an alle, die diesen Text lesen, dass sie Teil meines Bibliothekstraumes waren und sind.