Was unter Informationskompetenz verstanden wird, verändert sich

Was unter Informationskompetenz verstanden wird bzw. wie diese wahrgenommen wird, verändert sich im Bereich der Hochschulbibliotheken auch in Deutschland. Informationskompetenz wird nicht nur aus Sicht von Bibliotheken gesehen. Ein Auslöser dazu war sicher das Papier der Hochschulrektorenkonferenz "Hochschule im digitalen Zeitalter: Informationskompetenz neu begreifen – Prozesse anders steuern".

Die Förderung von Informationskompetenz ist zwar heutzutage essentieller Teil der Dienstleistungen von Bibliotheken. Oliver Schoenbecks Aufsatz "Informationskompetenz als Gestaltungsaufgabe" (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 62 (2015) H. 2. S. 85–93 – Nicht Open Access!) zeigt aber, dass Informationskompetenz nicht immer unter einem pädagogisierenden Blickwinkel gesehen werden muss. Einen vergleichbaren Ansatz bieten Thorsten Bocklage, Julia Rübenstahl und Renke Siems in "Informationskompetenz als Kuratieren von Wissensräumen" (Preprint eines Beitrages zur zweiten Auflage des "Handbuchs Informationskompetenz", hrsg. von Willy Sühl-Strohmenger. Berlin: De Gruyter 2016). Wenn es Bibliotheken im Hochschulbereich vermeiden, ein Sendungsbewusstsein zu entwickeln, dafür aber bedarfsgerecht und anfrageorientiert mit ihren Angeboten auf die Bedürfnisse der Nutzenden reagieren, kann Informationskompetenz als ein Thema der Förderung von Schlüsselkompetenzen durch die Hochschule insgesamt betrachtet werden. Die Angebote der Bibliothek sind also im Optimum vor allem Teil der Aktivitäten der Hochschule.

Hinwendung zur Forschung und zum wissenschaftlichen Arbeiten

Durch die Hochschulrektorenkonferenz ist das Thema Forschung im Bereich Informationskompetenz betont worden, vgl. dazu auch Michaele Adam und Jens Mittelbach: "Mit Informationskompetenz im Forschungsprozess die Zukunft an der SLUB Dresden gestalten" (GMS Medizin – Bibliothek – Information 14 (2014) 1-2: Doc06). Daraus folgende Blicke auf die hier diskutierte Informationspraxis wirken auf mich teilweise sehr objekt- und werkzeugorientiert und sprechen die sozial-kulturelle Praxis zu wenig an. So klingt beispielsweise im folgenden, inhaltlich richtigen Zitat aus einem Aufsatz von Wolfram Horstmann, Najko Jahn und Birgit Schmidt mit dem Titel "Der Wandel der Informationspraxis in Forschung und Bibliothek" (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 62 (2015) H. 2. S. 73–79 – Nicht Open Access!) die kritische Haltung zum Begriff Informationskompetenz deutlich an:

"[…] Dienstleistungen der Bibliothek [sollen] insbesondere im Hinblick auf die Vermittlung von sogenannter »Informationskompetenz« für Studierende und Forschende betrachtet und mit heute gängiger Informationspraxis in der Forschung verglichen werden, um mögliche Differenzen zu beschreiben, zu bewerten und Implikationen für Bibliotheksdienste aufzeigen zu können." (S. 73-74)

In der nachfolgenden Darstellung der "Informationspraxis" – wohl begrifflich bewusst im Gegensatz zur Informationskompetenz gewählt – geht es hauptsächlich um Werkzeuge wie Softwareprodukte, Social-Media-Dienste usw. (vgl. besonders die Tabelle auf S. 76).

Dass Informationskompetenz "neu erfunden" werden sollte, thematisieren Inka Tappenbeck und Ulrich Meyer-Doerpinghaus in "Informationskompetenz neu erfinden: Praxis, Perspektiven, Potenziale" (Vortrag, Bibliothekartag 2015). Sie verweisen auch auf die interessante Masterarbeit von Katrin Steiner "Forschungsdatenmanagement und Informationskompetenz : neue Entwicklungen in Hochschulbibliotheken Neuseelands". Diese erwähnt hier den ganzheitlichen Ansatz einer "research ecology" der neuseeländischen Lincoln University Library (vgl. auch "Making visible the experience and activity in the research ecology at Lincoln University" von Roger G. Dawson. (Nebenbei bemerkt: In den Folien von Tappenbeck und Meyer-Doerpinghaus wird dieses Modell der britischen Lincoln University zugeschrieben, was zeigt, dass Information auch richtig gelesen und bewertet werden muss. 😎 Wie wir alle auch an uns selbst merken, fehlt im Alltagsgeschäft dazu oft die Zeit!)

Ein weiteres Indiz, dass sich etwas ändert, ist die Auszeichnung des Projektes CoScience des Science Labs der TIB, die kooperative Erstellung eines Handbuches zum digitalen wissenschaftlichen Arbeitsalltag im Rahmen eines Best-Practice-Wettbewerb der Gemeinsamen Kommission Informationskompetenz von VDB und dbv zum "Einsatz von E-Learning bei der Vermittlung von Informationskompetenz". Beschrieben wird das Projekt auch in einem Aufsatz mit dem schönen Titel "Die Bibliothek als Plattform für eine partizipative Informationskultur : Das Projekt ‚CoScience – Gemeinsam forschen und publizieren mit dem Netz‘ am Open Science Lab an der Technischen Informationsbibliothek (TIB)" von Martin Mehlberg und Philip Schrenk (B.I.T. online 18 (2015) Nr. 2, 105-115). Der hier verwendete Begriff Informationskultur gefällt mir besser als der Begriff Informationspraxis, umfasst er nämlich auch einen Bezug zur jeweils unterschiedlichen Fachkultur.

Reflexion über Wissenschaft als Kernkomponente von Informationskompetenz

Ganzheitliche Hochschulbildung fragt nach der Entstehung und den Kennzeichen wissenschaftlichen Wissens im Forschungsprozess. Fragen des Life Cycle wissenschaftlicher Information führen letztendlich zu Fragen darüber, was mit wissenschaftlicher Wahrheit überhaupt gemeint ist. Dazu gehört also ein Nachdenken über Kennzeichen von wissenschaftlichen Texten oder von Wissenschaftlichkeit. Im Rahmen von Informationskompetenz kann gefundene Information nur dann wirklich bewertet werden, wenn eine Reflexion über die Entstehung von Information und Wissen sowie über die erkenntnistheoretische Problematik der Bewertung und Gültigkeit von Wissen und damit über die soziale Konstruktion von Wissen und Wissenschaft erfolgt. Ein verstärkte Hinwendung von Informationskompetenz-Aktivitäten in Richtung Forschung und wissenschaftliches Arbeiten bringt auch den Bibliotheken wichtige Themen in den Fokus, wie die Funktion und Problematik des Peer Reviews, die Zukunft des Publizierens und Open Access, Plagiate, Forschungsdaten, Zitatanalysen und deren aktuelle Herausforderungen bei alternativen Modellen zum Ranking von Forschung sowie die Bedeutung von Urheberrechts-Fragen im elektronischen Alltag.

Auch international wird diese erkenntnistheoretische (epistemologische) Komponente von Informationskompetenz immer sichtbarer, so für mich im Report der ACRL "Intersections of Scholarly Communication and Information Literacy: Creating Strategic Collaborations for a Changing Academic Environment" oder in deren neuen "Framework for Information Literacy for Higher Education" sowie im leider nicht Open Access verfügbaren Aufsatz von Tibor Koltaya, Sonja Špiranec und László Z. Karvalicsc mit dem Titel "The Shift of Information Literacy Towards Research 2.0" (Journal of Academic Librarianship 41 (2015) 1, 87–93).

Der Kern von Informationskompetenz hat vor dem Hintergrund akademischer Fachkulturen eine solche epistemologische Komponente, die auch Thema meines Beitrages im in 2. Auflage im Jahre 2016 erscheinenden „Handbuch Informationskompetenz“ ist. Der Finne Ilkka Tuomi hat diese Komponente als „epistemic literacy“ beschrieben (Epistemic Literacy or a Clash of Clans? A Capability-based View on the Future of Learning and Education. In: European Journal of Education 50 (2015) H. 1. S. 21–24 – OA-Version):

„Learning to know requires a capability to under-stand how knowledge organizes individual and social lives. Beyond the skills to access existing knowledge, we need an active capacity to create knowledge and make sense of the world. We could call this skill epistemic literacy. Epistemic literacy helps us to cope with heterogeneous and dynamic knowledge landscapes. It means that we understand how knowledge is created and what constitutes the social basis for learning and education. It means that we know what a good argument is, and what counts as evidence. It also means that we understand how and why different worldviews are created and how these lead to epistemic power struggles. Epistemic literacy is becoming socially and individually im-portant as the Internet is rapidly eroding historically evolved social boundaries, institutions, and systems of meaning.“ (S. 22-23)

Dazu passt das Hervorheben der Metakognition, also des Nachdenkens über das eigene Denken, das im Konzept der „Metaliteracy“ eine Rolle spielt. Metaliteracy findet sich auch im oben genannten Framework implizit wieder.

Informationskompetenz ist Teil akademischer Bildung. Reflexion über Information ist Teil des Kerns jeder Informationskompetenz. Im akademischen Bereich umfasst diese eine Reflexion über das Phänomen Wissenschaft, deren Kennzeichen, Methoden und Theorie, deren Sichtbarkeit und Nutzen sowie deren Entwicklung hin zu einer „open science“.

Die Herausforderung, wie und ob eine Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft mit Hilfe von Wissenschaft und Technik gelingen kann, bedarf einer Form von transformativer Kompetenz. Medien- und Informationskompetenz ist Teil dieser "transformative literacy", welche Uwe Schneidewind so definiert: "the ability to read and utilize information about societal transformation processes, to accordingly interpret and get actively involved in these processes" (Transformative Literacy. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse verstehen und gestalten. In: GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society 22 (2013) H. 2. S. 82–86, S. 83).

Dieser Bezug von Informationskompetenz zur globalen Herausforderung einer „Nachhaltigen Entwicklung“ (vgl. auch die "The Lyon Declaration On Access to Information and Development" (2014) der IFLA (International Federation of Library Associations and Institutions, hier Punkte 3 und 4) zeigt, dass die epistemologische Komponente auch im Bereich der Allgemeinbildung bzw. im nicht-akademischen Bereich ihre Berechtigung hat.

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