Da ich ja schon seit einigen Jahren in einer kleineren Universitätsbibliothek eine Leitungsposition innehabe, beschäftigt mich das Thema ‚Wahrnehmen‘ von Leitung eigentlich ständig. Und ‚Wahrnehmen von Leitung‘ bedeutet immer zweierlei, einerseits wie ich selbst meine Leitungsposition wahrnehme, also aktiv gestalte, oder andererseits wie diese von anderen Menschen wahrgenommen wird. Eigentlich kommt noch mehr hinzu:
"Wie eine Person ist, wie sie auf andere wirkt und wie sie sich selbst sieht, sind drei verschiedene Paar Schuhe." (S. 177)
Obigen Satz habe ich einem Buch entnommen, das ich zur Zeit lese und das mir beim Reflektieren über das Thema viel hilft: Führen : Worauf es wirklich ankommt / von Daniel F. Pinnow. 5. Aufl. Wiesbaden : Gabler Verlag / Springer, 2011. Nur der Titel gefällt mir nicht so ganz, Führung als Begriff hat für mich immer noch einen unangenehmen Beigeschmack, Leitung als Begriff klingt sehr handwerklich, da fehlt manches Philosophische, was bei Führung mitschwingt, eigentlich erscheint mir zur Zeit der Begriff Management als der beste.
Am meisten angetan hat mir bisher das 3. Kapitel des Buches mit dem Titel "Systemische Führung. Oder: Eine Welt gestalten, der andere gerne angehören wollen".
"Systemische Führungskräfte nutzen und stärken das Selbstentwicklungspotenzial einer Organisation." (S. 164)
Dieser Satz passt: Am liebsten agiere ich als ein Gärtner, der auf Selbststeuerung und lose Kopplung setzt. Wann und wo sollte ich aber lieber situations- und adressatenangepasst als Gestalter oder Lenker wirken?
"Systemisches Führen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Führungskraft strategisch, zielorientiert, in größeren Zusammenhängen und in langfristigen Mustern denkt. Probleme werden umfassend analysiert und beschrieben, aber nicht negativ bewertet. Im konstruktivistischen Sinn sind Probleme und Störungen zu begrüßen, denn sie initiieren Veränderung und Fortschritt. Sie zwingen das System dazu, flexibel und lernfähig zu bleiben." (S. 164-165)
Noch ein paar Sätze, die mir gefallen:
"Um das Verhalten der Mitarbeiter zu verändern, verändert die systemische Führungskraft zunächst ihr eigenes Verhalten. (S. 165) […] gehört dazu, dass die Führungskraft selbst ständig hinzulernt, indem sie ihre Art der Gestaltung und Lenkung immer wieder selbstkritisch hinterfragt. Zur Fähigkeit des Lernens gehört nämlich auch die Fähigkeit zu verlernen, alte Verhaltensmuster aufzugeben und bekannte Strukturen zu verlassen." (S. 166)
Weitere Sätze, die mich nachdenklich machen, gleichzeitig aber auch in meinem Handeln bestärken:
"Unsicherheit ist aber auch ein Gefühl, das sich bei konstruktiver Auseinandersetzung positiv nutzen lässt." (S. 173)
"Führungskräfte müssen vor allem den Mut haben, zu sich und ihren Gefühlen zu stehen und sie positiv für ihre Aufgabe zu nutzen. […] Zu den wichtigsten Aufgaben einer Führungskraft zählt, das eigene Verständnis von Führung regelmäßig zu überprüfen und sich zu fragen, ob das eigene Verhalten in der konkreten Situation hilfreich, wirksam und akzeptabel ist." (S. 175)
Und im wirklichen Leben sieht dann doch alles ganz anders aus?! Ist das in den obigen Sätzen ausgedrückte Management-Verständnis überhaupt erreichbar? Ist das nicht alles nur Wunschdenken? Werden von einer Leitung bestimmte Verhaltensmuster nicht auch immer wieder automatisch erwartet? Theoretisch ist ja alles klar, aber in der Praxis hapert es! Zumindest gilt dies für mich persönlich, obwohl ich in meinem Umfeld Kolleginnen und Kollegen sowie eine Bibliotheksleiterin habe, bei denen ich mich sehr gut aufgehoben bzw. unterstützt fühle.
Eine schöne Metapher für Leitung ist für mich das "Reisen": Leiten, dies habe ich irgendwo gelesen, heisst Menschen auf eine Reise schicken. Am liebsten würde ich z.B. nur sagen, "Reisen Sie nach Spanien", und alles Weitere machen die angesprochenen Menschen allein. Manche wollen vielleicht von mir wissen, welche Orte Sie in Spanien besuchen sollen, hier kann ich Hinweise geben. Andere benötigen vielleicht die ganze Reiseroute oder gar, welche Sehenswürdigkeiten sie am Ort besuchen sollen. Hier sind dann eindeutige Vorgaben gefragt. Die Kunst ist es hier zu wissen, wie die richtige Balance zu finden ist und genau zu wissen, wer wie am besten zu unterstützen ist.
Ständig frage ich mich, wann ist es vermeintlich notwendig als Leitender in einem bestimmten Kontext einzugreifen, wie weit sollte dies geschehen und wann ist es eher sinnvoll, sich zurückzuhalten und die Entwicklung dem systemischen Geschehen zu überlassen? Und in der Regel muss diese Frage in jeder spezifischen Situation neu beantwortet und damit für mich selbst jeweils neu entschieden werden.
Schreibt man zum Thema Management einer Bibliothek überhaupt so öffentlich? Zum Thema ist außer relativ allgemeinen Äußerungen leider selten etwas zu lesen. Eine sehr positive Ausnahme war vor einiger Zeit der Beitrag von Dale Askey in den "Stimmen" beim Plan3t.info. Auch in den Blog-Beiträgen von Anne Christensen spüre ich die hier angesprochene Ambivalenz des Handelns in Leitungspositionen. Ein Grund für das Schreiben dieses Blog-Beitrages ist es, dass ich versuchen will, dem nahe zu kommen, was ich oben zitiert habe und damit auch eigene Unsicherheiten öffentlich mache. Und vielleicht hilft dies auch anderen mit ähnlichen Gefühlen und Erfahrungen. Verändern will und muss ich mich ständig, um auf sich laufend wandelnde Herausforderungen zu reagieren und durch ständiges Dazulernen, auch beim Wahrnehmen von Leitung.
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