Begriffliches zu Informationskompetenz und Information: Informationskompetenz ist ein "discursive construct"

In der Zeitschrift Information: Wissenschaft & Praxis (IWP) findet sich im neuen Heft ( 62(2011)1, S. 37-42 ) ein interessantes Interview der Magister-Absolventin Linda Treude von der Humboldt-Universität mit dem Titel "Information Zeichen Kompetenz – Fragen an Rafael Capurro zu aktuellen und grundsätzlichen Fragen der Informationswissenschaft". Dabei geht es auch um den Begriff Informationskompetenz und, wie bei Rafael Capurro nicht anders zu erwarten, um den Begriff Information. Leider ist das Interview nicht Open Access verfügbar.

Auf die Frage von Linda Treude:

"Den Begriff Informationskompetenz (bzw. information literacy) als Schlüsselkompetenz im Umgang mit Informationen tragen zur Zeit geradezu inflationär Projekte des Bildungs- und Bibliothekswesens im Titel. Dies suggeriert, dass man heute spezielle Fähigkeiten haben müsse, um den Anforderungen einer "Informationsgesellschaft" gewachsen zu sein. Für wie brauchbar halten Sie den Begriff und auf welche Kompetenz(en) verweist er Ihrer Meinung nach?" (S. 37)


antwortet Capurro:

"Wenn man diesen Begriff nicht auf den Umgang mit verschriftlichten Informationen einschränkt, sondern auf ein theoretisches und praktisches Sichauskennen mit den vielen Formen der Digitalisierung und der Handhabung digitaler codes und devices erweitert, dann finde ich die Frage nach der Entwicklung dieser Fähigkeiten bereits in der schulischen Ausbildung sehr wichtig. Es m&uumml;sste dabei kritisch reflektiert werden wie digitale Technologien in verschiedene Bereiche des Alltags eindringen und welche positiven und negativen Auswirkungen sie haben oder haben können. Ich meine damit konkret die Erziehung zu einem verantwortlichen Umgang zum Beispiel mit Blogs, E-Mail oder social software bis hin zur kreativen Nutzung des Internet für Lernprozesse und sozial-politisches Engagement. [..]
Ich glaube also, dass wir unterschiedliche Informationskompetenzen (im Plural!) in verschiedenen theoretischen und praktischen Bereichen thematisieren müssen, ohne diese Vielfalt auf eine Grundkompetenz reduzieren zu können. [Hervorhebung T.H.] Jeder Bereich hat eigene Qualitätsstandards und Kreativitätspotentiale, so dass die Informationskompetenzen sich dynamisch und auf verschiedenen Ebenen entwickeln müssen." (S. 37-38)

Zur Frage eines einheitlichen Informationsbegriffs sagt Capurro, der in diesem Blog schon mehrmals erwähnt wurde:

"Die Frage lautet zunächst was ‚einheitlich‘ heißt und dann wer einen solchen einheitlichen Informationsbegriff braucht. In vielen anderen Bereichen arbeiten wir mit unterschiedlichen nicht-einheitlichen Begriffen […] Gerade die angebliche Ungenauigkeit und Veränderung des Alltagsgebrauchs bietet oft der Wissenschaft Grundlage für neue Definitionen, die über eine verkrustete wissenschaftliche Sicht hinausgehen. So war es zum Beispiel mit dem durch Claude Shannon geprägten Informationsbegriff, der dem Alltagsgebrauch entgegengesetzt ist aber im Rahmen der Shannonschen Theorie gute Dienste leistet. Das Problem entsteht aber dann, wenn andere Wissenschaften, unter ihnen auch die Informationswissenschaft selbst, mit diesem Informationsbegriff wenig anfangen können da sie andere Phänomene im Blick haben, bei denen zum Beispiel die semantische und pragmatischen Aspekte, die Shannon ausschloss, im Vordergrund stehen. So ist also im Laufe der letzten fünfzig Jahren eine Fülle von Informationsbegriffen entstanden, die sich teilweise überlagern teilweise aber äquivok sind." (S. 38-39)

Die Interviewpartnerin von Capurro hat übrigens eine Magisterarbeit mit dem Titel "Das Konzept Informationskompetenz. Ein Beitrag zur theoretischen und praxisbezogenen Begriffsklärung" geschrieben, die 2011 in der Reihe "Berliner Handreichungen zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft" veröffentlicht werden soll. Ich bin gespannt …!. Schon 2005 ist ja in dieser Reihe von Marianne Ingold der Beitrag "Das bibliothekarische Konzept der Informationskompetenz" veröffentlicht worden.

Passend dazu wurde auf dem Annual Meeting der ASIST (Oct. 22-27, 2010, Pittsburgh, PA) ein interessantes Paper "Information as Discursive Construct" von Lai Ma vorgestellt. Die Conference Proceedings sind online verfügbar. In dem Beitrag heisst es:

"[…]information is constituted by community consensus and is influenced by economic and political structures of social systems. As such, ‚information‘ should be understood as discursive construct.[…]
Information as discursive construct may co-exist as concepts and cultural and social expressions. Nevertheless, the question ‚what is information?‘ as well as questions concerning information need be asked in regard to certain social situations."

Eine Diskussion um den Begriff Informationskompetenz, der ja aus den zwei komplexen Begriffen Information und Kompetenz besteht, dürfte nicht einfacher sein. Auch Informationskompetenz ist ein "discursive construct"! 😎

2 Gedanken zu „Begriffliches zu Informationskompetenz und Information: Informationskompetenz ist ein "discursive construct"

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