Textsplitter zum Menschenschutz

Dass das bisher in diesem Blog vorherrschende Thema Informationskompetenz für mich immer auch was mit Umweltkompetenz bzw. „ecological literacy“ zu tun hat, zeigen manche Beiträge in diesem Blog und in meinen Veröffentlichungen.

Im Text „Wissenschaft und Offenheit“ hatte ich den Umweltwissenschaftler David W. Orr zitiert, der „ecological literacy“ beschreibt als „the ability to ask ‘What then?‘“ (in: Orr, David W.: Ecological literacy. Education and the transition to a postmodern world. Albany: State University of New York Press 1992, S. 85). Das „What then?“ stammt von Garret Hardin, vgl. etwa den Aufsatz „On being ecolate as well as literate and numerate“ (The Social Contract, 1999, 9(3), 139–144).

Vom gleichen David Orr findet man in einem Reader (S. 6) zu einer Tagung 2019 des Konzeptwerks Ökonomie mit dem Titel „Bildung Macht Zukunft – Lernen für die sozial-ökologische Transformation?“ das folgende nachdenklich machende Zitat zum Thema Bildung:

„Bildung wird weitgehend nicht als Problem gesehen, der Mangel daran aber sehr wohl. Der allgemeine Glaube besagt, dass Bildung gut ist und je mehr wir davon haben, desto besser. […] Die Wahrheit ist, wenn wir nicht gut aufpassen, dann rüsten wir mit Bildung Menschen dafür aus, die Erde noch effektiver zu zerstören.“

Dieses Zitat ist eine Übersetzung aus Orr, D. W. (2004). Earth in mind: On education, environment, and the human prospect. Island Press, S.5:
„Education is not widely regarded as a problem, although the lack of it is. The conventional wisdom holds that all education is good, and the more of it one has, the better. […] The truth is that without significiant precautions, education can euip people merely to be more effective vandals of the earth.“

Damit Letzteres nicht passiert, arbeiten Natur- und Umweltschutzverbände daran, das Natur- und Umweltbewusstsein, also „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BnE)“ zu fördern. Hauptarbeitsschwerpunkt der Verbände ist aus meiner Sicht aber das Begleiten von Politik und Verwaltung, um zu erreichen bzw. im Optimum sicher zu stellen (was zu selten gelingt!), dass die vorhandenen, teilweise recht guten rechtlichen Grundlagen des Natur- und Umweltschutzes von Politik und Verwaltung überhaupt eingehalten werden.

Seit einiger Zeit bin ich nun Teil der Redaktion eines Newsletters des Regionalverbandes Elbe-Heide des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Ab und zu schreibe ich hier auch eigene Beiträge im Sinne einer BnE. Diese Textsplitter der letzten Monate zum Natur-, Umwelt- und Klimaschutz, die ja alle eigentlich Menschenschutz darstellen, folgen in diesem Blog-Beitrag.

20. August 2022

„Da geht noch was : weniger ist mehr“ – jeder kann was tun. Tolle Slogans auf Plakaten einer im Rahmen der Wandelwoche 2022 in Lüneburg gezeigten Ausstellung des Zukunftsrates zu einem ernsten Thema.

Klima – Es wird Zeit zu handeln …

Im Rahmen der Wandelwoche 2022 in Lüneburg wurde auch eine Ausstellung mit dem Titel „Da geht noch was : weniger ist mehr“ gezeigt. Diese vom Zukunftsrat in Kooperation mit Volker Butenschön zusammengestellte Ausstellung gibt konkrete Anregungen zum Thema Klima. Zu den zum Nachdenken anregenden Plakaten – siehe deren Slogans in der Abbildung unten – sind vertiefenden Texte zur Ausstellung auch online verfügbar.

Das Thema Klima ergänzt eine Ausstellung der Zukunftsrates Lüneburg mit dem Titel „Bilder einer solidarischen Welt“, die unter der Federführung von Norbert Bernhold erstmals zur Wandelwoche 2020 in Lüneburg zu sehen war. Auch hier sind die angebotenen Links sowie der begleitende Reader zur Ausstellung voll von Anregungen zum Nachdenken und hoffentlich zum Handeln zu Themen wie „Ein Leben auf Kosten anderer“, „Das Ende der Wachstumsgesellschaft?“, „Arbeit neu denken“, „Commons“, „Eigentum und Wohnen“ und „Geld regiert die Welt“.

Gleichzeitig zeigt die „Ergänzung“ des Themas Klima zusätzlich zur Ausstellung zwei Jahre davor, dass der folgende Satz aus der Charta des Netzwerkes Klimajournalismus seine Richtigkeit hat:

“Die Klimakrise ist kein Thema, sondern – analog zu Demokratie und Menschenrechten – eine Dimension jedes Themas.”

25. Juni 2022

Nachdenkliches – ein Leser des Newsletters fragt:

„Sind wir deshalb Umweltsünder?
Wie sollen wir uns klimagerecht verhalten?“

Ein Leser des 8. Newsletter vom April 2022 hatte eine Anmerkung zu meinem Artikel „Heizen mit Holz“ geschrieben und stellt am Ende seiner Mail die beiden obigen Fragen.

Für mich sind beide Fragen exemplarisch für das Dilemma bzw. den Anachronismus, in dem wir alle stecken, eigentlich auch exemplarisch für Situation, in der unsere gesamte Gesellschaft gerade steckt. Beide Fragen müssen wir uns alle stellen.

„Sind wir deshalb Umweltsünder?“ Ich denke, wir alle müssen hier „ja“ sagen, egal was mit dem „deshalb“ gemeint ist, egal wie und wo wir leben, insbesondere aber in den Ländern der nördlichen Halbkugel der Erde.

Und auch die zweite Frage, „Wie sollen wir uns klimagerecht verhalten?“, müssen wir alle uns immer wieder regelmäßig stellen und in Abhängigkeit vom jeweiligen (eigenen) Wissenstand und vom individuellen Kontext immer wieder neu beantworten. Dabei kommt man sicher oft auch zu Antworten, die nicht unbedingt umweltbewusst ausfallen oder die man sich selbst „schönredet“, mir geht es jedenfalls immer so. 😎 Manchmal, sicher nicht häufig genug, ändere ich dann mein Verhalten.

Der Leser, der geschrieben hatte, heizt teilweise auch mit Holz, wobei er hauptsächlich gefällte Bäume von seinem oder von Nachbargrundstücken nutzt. Zur energetischen Verwendung von Holz haben das Umweltbundesamt und die Umweltverbände eine eindeutige Haltung. Diese wurde ja im Text zum Heizen mit Holz im 8. Newsletter deutlich. Sie ist aus meiner Sicht leider in der Politik und in der Gesellschaft insgesamt noch nicht wirklich angekommen.

Aus einer Außensicht auf die vom Leser beschriebene Situation hier noch zwei Hinweise:

  1. Wenn der Platz vorhanden ist, kann man Holz teilweise auch einfach liegen und verrotten lassen. Altholz kann ein wichtiger Lebensraum für viele Tiere und auch Pflanzen sein.
  2. Wenn man Holz verheizt, sollte die Emission von Feinstaub soweit wie möglich verringert werden. Die Deutsche Umwelthilfe weist daher auf Festbrennstofföfen mit „Blauem Engel“ hin, es gibt seit Januar 2022 auch schon einen Blauen Engel für Staubabscheider zum Nachrüsten der Öfen. Siehe zum Thema „Feinstaub aus Kaminöfen“ auch den Beitrag im Newsletter 4 vom 26.12.2021.

 

28. Mai 2022

Die Bundeszentrale für politische Bildung gibt fachlich fundierte und gut lesbare Zeitschriftenhefte und Bücher zum Umwelt- und Klimaschutz heraus. Wir haben für Sie eine Auswahl vorbereitet.

Praktisches Handeln benötigt theoretische Hintergründe – Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung bieten diese!

Handeln als gute Praxis im Natur- und Umweltschutz benötigt auch theoretische Hintergründe. Hierbei können die allgemeinverständlichen Veröffentlichungen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) zum Umwelt- und Klimaschutz eine gute Unterstützung sein. Gedruckte Bücher von der bpb – oft als Wiederveröffentlichung von Verlagspublikationen – sind zu niedrigen Preisen zu erhalten, viele Veröffentlichungen sind aber auch frei online zugänglich. Wir haben für Sie im Folgenden eine Auswahl vorbereitet.

Die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn bietet in öffentlichem Auftrag allen Bürgerinnen und Bürgern vielfältige Informationen zu politischen Themen zwischen Staat, Politik, Bildungsinstitutionen, Wissenschaft und Medien.

Sogenannte Dossiers sind Eingangstore zu den vielfältigen themenspezifischen Informationsangeboten der Bundeszentrale, hier etwa zum Klimawandel.

In der Schriftenreihe der bpb werden Verlagspublikationen zu günstigen Preisen (selten teurer als 7,- Euro) wieder veröffentlicht, hier als Beispiele ausgewählt die Bände „Das Verstummen der Natur : Das unheimliche Verschwinden der Insekten, Vögel, Pflanzen – und wie wir es noch aufhalten können“ (2018, 2019) und „Über Leben und Natur : Verstehen, was biologische Vielfalt für unser Leben bedeutet“ (2020, 2021).

2021 wurde von der bpb ein Band mit Aufsätzen von Autor*innen des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam exklusiv veröffentlicht. Dieser trägt den Titel „Klimaschutz : Wissen und Handeln“ und thematisiert Voraussetzungen für eine erfolgreiche Klimapolitik, Herausforderungen klimapolitischer Strategien und beleuchtet dabei auch regionale Perspektiven.

Die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ)“ der bpb bietet regelmäßig Themenhefte mit Aufsätzen unterschiedlichster Autoren, auch aus dem Umwelt- und Klimaschutz-Bereich. Alle Hefte sind frei verfügbar zum Download als PDF-Datei.

Umwelt- und klimarelevante Themen waren z.B. der Klimawandel (2007!), Biodiversität (2008!), Klimadiskurse (2019), der Natur- und Artenschutz (2020), die Endlagersuche (2021) und das Wasser (2021). Die Autoren der jeweiligen Heft betrachten das Thema aus verschiedenen Kontexten heraus, so gibt es etwa beim Band Klimadiskurse, siehe links das Inhaltsverzeichnis auf dem Titelblatt, einen Text zu „Fridays for Future“ und Aufsätze mit Titeln wie „Die Wissenschaften in der Klimakrise“ und „Journalisten im Klimakrieg“.

Auch die andere, ebenfalls digital verfügbare Zeitschrift der bpb, die „Informationen zur politischen Bildung“, behandelt historische, politische und sozialwissenschaftliche Themen. Vor Kurzem ist eine Ausgabe zum „Klima“ erschienen.

Wissen um theoretische Hintergründe in den Bereichen Natur-, Umwelt- und Klimaschutz, die ja eigentlich zugleich Menschenschutz darstellen, ist also genug vorhanden und wird vielfach publiziert. Jetzt fehlt nur noch ein verstärktes Handeln von uns allen.

P.S. Gerade neu erschienen ist eine spannende Ausgabe der APuZ mit der Überschrift „Ökologie und Demokratie“!

30. April 2022

 
Heizen mit Holz

Holz ist ein wichtiger Rohstoff für langlebige Gebrauchsgüter. Zum Verheizen ist es eigentlich viel zu schade! Zudem ist die Verbrennung von Holz in der Regel nicht treibhausgasneutral, schon bei der Bereitstellung (Holzernte, Transport und Bearbeitung) entstehen Emissionen. Was dabei noch zu bedenken ist…

Die energetische Verwertung von Holz ist nicht klimaneutral.

Holz als wichtigen Rohstoff zu verheizen, ist viel zu schade. Deshalb rät das Umweltbundesamt von der Verbrennung von Holz in kleinen Feuerungsanlagen ab (Siehe https://www.zdf.de/nachrichten/politik/heizen-holz-umweltbundesamt-100.html). Vielelanglebige Gebrauchsgüter benötigen Holz. Eine energetische Verwertung von Holz sollte erst am Ende einer Kaskadennutzung in diesen Gütern (z. B. Häuser, Möbel) erfolgen.

Zudem ist die Verbrennung von Holz in der Regel nicht treibhausgasneutral, schon bei der Bereitstellung (Holzernte, Transport und Bearbeitung) entstehen Emissionen, vgl. „Heizen mit Holz : Ein Ratgeber zum richtigen und sauberen Heizen mit Holz. Ausgabe 2020.“ Dessau-Rosslau: Umweltbundesamt, 2020, S. 29. Neben dem privaten Heizen mit Holz gilt dies um so mehr für die industrielle Holzverbrennung zur Energieerzeugung. Leider hat die EU-Kommission in ihrem Entwurf zur Taxonomie auch die Gewinnung von Bioenergie, also etwa die Verbrennung von Holz, ebenso wie die Kernkraft und das Verbrennen von Erdgas als nachhaltig eingestuft (vgl. „Die Zeit“ 31.3.2022). Diese Taxonomie stellt ein Klassifikationsinstrument dar, das anzeigen soll, ob Unternehmen nachhaltig wirtschaften.

Deutsche Umweltverbände haben als Klima-Allianz Deutschland – dabei ist auch der BUND – schon im Jahre 2020 in einer gemeinsamen Erklärung zur Verwertung von Holz als Biomasse für den Energie-Sektor Stellung bezogen: „Kein Raubbau im Wald für einefalsche Energiewende“.

Nach einem Bericht in der Wochenzeitung „Die Zeit“ mit dem Titel „Heizen mit Holz: Klimaneutrale Energie? Von wegen“ hat die Forest Defenders Alliance (FDA) in einem Bericht durch Aufnahmen via Satellit und vor Ort gezeigt, dass in Europa regelmäßig ganze Baumstämme verbrannt werden.

Zusätzlich zur unnötigen Vernichtung von Bäumen ist etwa die private Holzfeuerung erheblich an der Verschmutzung der Luft mit Feinstaub beteiligt. Laut Umweltbundesamt übersteigen die Feinstaub-Emissionen (PM10) aus „Holzkleinfeuerungsanlagen mit 18,6 Tsd. t […] in Deutschland mittlerweile die Auspuffemissionen von Lkw und Pkw (Auspuffemissionen Straßenverkehr ca. 6,8 Tsd. t PM10).“

Es geht zukünftig vor allem darum, Kohlenstoffdioxid langfristig zu speichern, etwa durch die Aufgabe der Nutzung auf mindestens ein Drittel der Waldfläche, und dies besonders in den wertvollen Altwäldern mit großem Holzvorrat, also durch die Schaffung von mehr Naturwäldern. Aber auch durch adäquate Bodenbehandlung, nicht nur im Waldbau sondern auch in der Landwirtschaft sowie durch die Vernässung von ehemaligen Mooren wird deutlich mehr CO2 als durch Aufforstung von Wald.

Karl-Friedrich Weber, der waldpolitische Sachverständige des BUND Niedersachsen, hat in seinem Waldbrief Nr. 59 vom 26.02.2022 mit dem Titel „Ist Energieholznutzung klimaneutral?“ umfassend zur Holzverbrennung Stellung bezogen. Seine regelmäßig erscheinenden Waldbriefe sind eine wahre Fundgrube an Themen für alle, die sich für den Wald interessieren. Weber ist auch einer der Autor*innen im Sammelband „Der Holzweg: Wald im Widerstreit der Interessen“ (Knapp, H. D., Klaus, S., & Fähser, L. (Hrsg.). (2021). Succow Stiftung ; Oekom Verlag) mit vielen besorgten und kritischen Texten zur Situation des Waldes in Deutschland. Einer der interessantesten Text in diesem Band ist: Ibisch, P., Welle, T., Blumroeder, J., Sommer, J., & Sturm, K. (2021). Wie das Klimaschutznarrativ die Wälder bedroht (S. 175–200). Dieser beschäftigt sich auch kritisch mit der Klimaneutralität der Holznutzung.

Aktuell hat auch der Nabu auf die Problematik hingewiesen – vgl. Helge May: Der große Bluff : Die EU propagiert Holzverbrennung in Kraftwerken als klimaneutrale Form der Energiegewinnung. Doch das Gegenteil ist der Fall. In: Naturschutz heute, Frühjahr 2022, S. 22-236 – und sich eindeutig positioniert: Er „lehnt die Verbrennung von Holzbiomasse zur Energiegewinnung im industriellen Maßstab ab. Wälder müssen als natürliche CO -Senken und Lebensraum? erhalten bleiben. Holz sollte daher nur am Ende der Nutzungskaskade verbrannt werden, das heißt: Wenn es bereits als Werkstoff genutzt wurde und keinem anderen Zweck mehr dienen kann.“ (Vgl. https://www.nabu.de/umwelt-und-ressourcen/nachhaltiges-wirtschaften/biooekonomie/biomasse/31319.html)

 
Mehr Moor = weniger CO2

Moore binden viel Kohlenstoffdioxid und leisten so einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz. Eine Wiedervernässung von trocken gelegten Moorflächen ist möglich und oft ratsam, auch in Lüneburg! – Ein Überblick:

Wiederbewässerung von Mooren spart Millionen Tonnen CO2

Das vor kurzem vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz verlautbarte Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz zur Stärkung der Biodiversität und zur Förderung des Klimaschutz betont die Bedeutung von Mooren. Warum Moore so wichtig für den Klimaschutz sind, dafür wollen wir im Folgenden – zusammen mit dem Angebot einer Führung zum „Ochtmisser Moor“ und weiteren Ausflugs-Tipps – aufmerksam machen.

In Deutschland machen Moore „7 % der landwirtschaftlich genutzten Fläche aus und verursachen 36 % aller landwirtschaftlichen Treibhausgasemissionen (= 43 Mio. t CO2-Äq., einschl. Methan aus der Viehhaltung und N2O aus der Düngung)“. (S. 12 in: Klimaschutz auf Moorböden : Lösungsansätze und Best-Practice-Beispiele / Greifswald Moor Centrum ; Abel, Susanne, Barthelmes, Alexandra, Gaudig, Greta, Joosten, Hans, Nordt, Anke & Peters, Jan ; unter Mitwirkung von Couwenberg, J., Dahms, T., Hohlbein, M., Kaiser, M. & Tanneberger, F.. – Greifswald Moor Centrum, 2019. Greifswald Moor Centrum-Schriftenreihe 03/ 2019 Vgl. auch diesen Aufsatz: Succow, M., Gaudig, G., & Tanneberger, F. (2021). Die Vernutzung der Moore Deutschlands und ihre klimatischen Folgen. In Lozán, J. L., Breckle, S.-W., Graßl, H., & Kasang, D. (Hrsg.). Warnsignal Klima: Boden- und Landnutzung: wissenschaftliche Fakten (S. 125-135). Hamburg: Wissenschaftliche Auswertungen in Kooperation mit GEO.)

Im einem Interview mit der „tageszeitung“ nennt der am Greifswald Moor Centrum forschende und nun emeritierte Moor-Experte Hans Joosten weitere beeindruckende Zahlen:

„… Schon 83 Prozent der Moore sind für die Landwirtschaft entwässert. … Windräder in Deutschland sparen zwei Millionen Tonnen CO2 – die entwässerten Moore emittieren sechs Millionen Tonnen.
… Der Klimaschaden von Landwirtschaft auf Moor allein in Deutschland kostet nach offiziellen Zahlen acht Milliarden Euro pro Jahr.“

Damit wird die große Bedeutung der Wiedervernässung von Mooren für das Speichern von CO2 sowie für das Verhindern der weiteren Emission dieses Klimagases aus trockengelegten Mooren deutlich.

Das Thema Moor „boomt“, was durch eine Vielzahl von Artikeln in regionalen und überregionalen Zeitungen deutlich wird:

Dass die Wiedervernässung von Mooren kein Widerspruch zu Land- und Forstwirtschaft sein muss, dies haben etwa die in Greifswald Forschenden unter dem Namen Paludikultur deutlich gemacht. Von den in Greifswald gemachten praktischen Erfahrungen wurde auf der Konferenz „Moorschutz ist Klimaschutz“ am 28.03.2022 in Berlin berichtet, die auch als Livestream zur Verfügung steht.

Aus Greifswald kommt auch ein Informationspapier zu „Photovoltaik-Anlagen auf Moorböden“ mit dem Vorschlag, die immer attraktiver werdende Errichtung von PV-Anlagen als Hebel zu nutzen, um den Umfang der jährlich wiedervernässten Moorböden-Flächen zu erhöhen.

Moore in Stadt und Landkreis Lüneburg

Gibt es überhaupt noch Moore im Lüneburger Stadtgebiet? Namen wie Kaltenmoor und Moorfeld verdeutlichen, dass Moore früher durchaus Teil des Stadtgebietes gewesen sein müssen. Geht man im Grüngürtel von Lüneburg spazieren, etwa in der Nähe von Ochtmissen, fallen einem durchaus Feuchtgebiete auf, die früher auch als „Ochtmisser Moor“ bezeichnet wurden (siehe die Interaktiven Karte zum Landschaftsplan Lüneburg).

Eine Fotostrecke bei einem Spaziergang am „Ochtmisser Moor“ zwischen Vögelsen und Ochtmissen-Krähornsberg zeigt, dass durch ein Verzicht auf Entwässerung durchaus ein attraktives Feuchtgebiet entstehen könnte. Ein weiteres Moor im Lüneburger Stadtgebiet ist das Naturschutzgebiet „Dümpel an der Landwehr“, das auf dem Screenshot oben links eingezeichnet ist.

Im alten Landschaftsplan der Stadt Lüneburg aus dem Jahre 1996 gibt es auf Seite 55 eine Tabelle „Landnutzungsveränderungen im Stadtgebiet Lu?neburgs, ein Vergleich zwischen 1879 und 1990 (Flächenangaben in ha, ca., gerundet auf ganze Zahlen)“

1879 gab es im Stadtgebiet von Lüneburg 59 ha Moor und Sumpf, 1990 sind davon 2 ha übrig geblieben. Deutlich ist hier die Abnahme der Moorgebiete in der Stadt seit 1879.

Und wie sieht es im Landkreis Lüneburg aus? Exemplarisch lässt sich hier ebenfalls zeigen, dass im gesamten Landkreis Lüneburg in den letzten Jahren der Flächenanteil von Mooren kontinuierlich zurückgegangen ist. Dieser Trend sollte im Sinne des Klimaschutzes umgedreht werden, auch im Landkreis Lüneburg!

Moor in ha

Sumpf in ha

2004

77,82

2013

69

204

2015

67

206

2016

65

240

2017

47

280

2018

39

260

2019

36

257

2020

25

270

Tabelle: Moor- und Sumpfflächen im Landkreis Lüneburg (Quellen: Flächenerhebung nach Art der tatsächlichen Nutzung – Statistische Berichte. Landesamt für Statistik Niedersachsen)

Ausflugstipps

  • 27.5.2022, 16.00 Uhr: „We want Mo(o)re!“ – eine Führung mit Ansgar Suntrup zu den Resten des Ochtmisser Moores, veranstaltet vom BUND Regionalverband Elbe-Heide. Treffpunkt: Parkplatz für den Friedhof Nordwest, Am Wienebütteler Weg.
  • Wollen Sie ein intaktes Moorgebiet in nicht zu großer Entfernung von Lüneburg besuchen, sind unbedingt das Pietzmoor bei Schneverdingen sowie das Tister Bauernmoor zwischen Sittensen und Tostedt zu empfehlen.

Und noch eine Ergänzung zum Thema „Wiedervernässung von Mooren und Methan“:

Im Zusammenhang mit dem Projekt der Moorentwicklung durch Wiedervernässung wird manchmal diskutiert, dass das bei der Wiedervernässung entstehende Methan aus diesem Boden wesentlich klimaschädlicher sei.

In einem Flyer „Was haben Moore mit dem Klima zu tun?“ der Deutschen Gesellschaft für Moor- und Torfkunde ist das auch ein Thema und als Hinweis steht dort:

„Um die Methanbildung gering zu halten, sollten zu vernässende Flächen, wenn technisch möglich, nicht überstaut sowie der Aufwuchs zuvor geerntet und von der Fläche gefahren werden. Optimal ist es, in den ersten Jahren der Vernässung den Wasserstand knapp unter der Bodenoberfläche zu halten.“

Zu berücksichtigen ist aber aus meiner Sicht auch, dass die Aussagen des Flyers den Stand des Jahres 2007 widerspiegeln! Auch die 3. Auflage des Flyers von 2017 enthält keine Änderungen zur ersten Ausgabe von 2009. Der dort zitierte Aufsatz des Flyer-Redakteurs steht online zur Verfügung (Höper, H. (2007). Freisetzung von Treibhausgasen aus deutschen Mooren. TELMA – Berichte der Deutschen Gesellschaft für Moor- und Torfkunde, 37, 85–116.)

Hinweise auf aktuellere wissenschaftliche Erkenntnissen liefert etwa eine Presseerklärung eines Projektes von Rostocker und Greiswalder WissenschaftlerInnen, Wetscapes genannt. Hier heisst es:

„Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fanden heraus, dass der Klimaeffekt von bewirtschafteten Mooren vor allem durch Kohlendioxid bestimmt wird, nicht durch Methan. Methan hat am Anfang zwar eine stärkere Treibhauswirkung als Kohlendioxid, verschwindet aber auch wieder relativ schnell aus der Atmosphäre.“

In der passenden dpa-Meldung, die die Wochenzeitung „Die Zeit“ genutzt hat, steht: „Zudem zeigten sich bei wiedervernässten Moore entgegen gängiger Erwartung keine sehr hohen Methanemissionen.“.

Die Originalveröffentlichung ist frei verfügbar: Günther, A., Barthelmes, A., Huth, V., Joosten, H., Jurasinski, G., Koebsch, F., & Couwenberg, J. (2020). Prompt rewetting of drained peatlands reduces climate warming despite methane emissions. Nature Communications, 11(1), 1644.

Besonders beeindruckend finde ich die Kurven von S. 2 der Veröffentlichung.

Für mich bedeutet das: Wiedervernässen von Mooren so schnell wie möglich und so viel wie möglich!

 

26. März 2022

Zum Lesen: Buchreihe Warnsignal Klima

Herausforderungen des Umwelt- und Klimaschutzes sind in der Regel sehr komplex und wenn man tiefer einsteigt, erkennt man oft, das einfache Antworten selten ausreichen. Allen, die punktuell tiefer in den Umwelt- und Klimaschutz eintauchen wollen, sei die Buchreihe „Warnsignal Klima“ aus dem Umfeld der Hamburger Klimaforscher empfohlen, deren einzelne Beiträge alle auch frei zugreifbar als PDF-Datei vorliegen. In der detaillierteren Information wird auf drei Aufsätze zu den Themen Wiesen und Weiden, städtische Luftqualität sowie Wiedervernässung von Mooren besonders hingewiesen.

Einfache Antworten reichen bei den Herausforderungen des Umwelt- und Klimaschutzes nicht aus – die Buchreihe „Warnsignal Klima“ ermöglicht ein tieferes Einsteigen in einer Vielfalt von Themen

Seit 2005 wird die Buchreihe „Warnsignal Klima“ von Hamburger Klimaforschern in Zusammenarbeit mit dem Magazin „GEO“ herausgegeben. In jedem Band steht ein Oberthema im Mittelpunkt, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Fachdisziplinen in Dutzenden von Aufsätzen im Zusammenhang mit dem Klimaschutz genauer betrachten. Es begann 2005 mit dem Thema „Wasser“, es folgten bis heute die Bände Wasser, Polarregionen, Meere, Gesundheitsrisiken, Eis der Erde, Biodiversität, Wetterextreme, Städte, Hochgebirge und – zuletzt im Jahre 2021 erschienen – Boden und Landnutzung.

Die darin enthaltenen Aufsätze sind selten länger als 6-8 Seiten und jeweils mit Farbbildern und genauen Literaturangaben versehen. Im Sinne guter Wissenschaftskommunikation haben die Texte, trotz ihrer „Wissenschaftlichkeit“, den Anspruch, die Komplexität der jeweiligen Themen gerade „Politikern, Behörden, Umweltorganisationen, Lehrern, Schülern und interessierten Laien“ zu vermitteln.

Die Bände sind in gedruckter Form käuflich zu erwerben. Die Aufsätze aller Bände stehen aber auch in freiem Zugriff („Open Access“) zum Download zur Verfügung, wobei die Texte der letzten Bände direkt nachgenutzt werden können, wenn beim Zitieren die entsprechende Creative-Commons-Lizenz benutzt wird.

Damit Sie beurteilen können, was Sie erwartet, folgen nun drei, auch aus Lüneburger Sicht, besonders interessante Beispiele aus drei Bänden der letzten Jahre.

  1. Lozán, J. L., Breckle, S.-W., Müller, R., & Rachor, E. (Hrsg.). (2016). Warnsignal Klima: Die Biodiversität: unter Berücksichtigung von Habitatveränderungen, Umweltverschmutzung und Globalisierung: wissenschaftliche Fakten: mit 224 Abbildungen, 10 Tabellen und 6 Tafeln. Verl. Wissenschaftliche Auswertungen.

    Dieser Band enthält einen Beitrag der an der Leuphana in Lüneburg lehrenden Professorin für Ecosystem Functioning & Services Vicky M. Temperton mit dem Titel „Grünland spielt eine wichtige Rolle für die Vielfalt und für das Klima“ (S. 170-176). Der Text zeigt auf, welche Bedeutung artenreiche Wiesen und Weiden – aufgrund ihrer extrem hohen Vielfalt an Pflanzen auf kleinem Raum – als heute immer stärker gefährdete Ökosysteme für den Erhalt der Biodiversität und für die Minderung des Klimawandels haben.

  2. Markus Quante, Volker Matthias, & Martin Ramacher. (2019). Städtische Luftqualität im Klimawandel. In Lozán, J. L., Breckle, S.-W., Graßl, H., Kuttler, W., & Matzarakis, A. (Hrsg.). (2019). Warnsignal Klima: Die Städte: wissenschaftliche Fakten. Wissenschaftliche Auswertungen (S. 120–127). Hamburg: Wissenschaftliche Auswertungen in Kooperation mit GEO. https://doi.org/10.25592/UHHFDM.9390

    Der ebenfalls an der Leuphana lehrende, am „Institut für Umweltchemie des Küstenraumes“ des Helmholtz-Zentrums Hereon in Geesthacht forschende Wissenschaftler Markus Quante gibt mit zwei Co-Autoren einen Überblick, welche Auswirkungen der Klimawandel auf Luftschadstoffe wie Ozon und Feinstaub in Städten hat.

  3. Succow, M., Gaudig, G., & Tanneberger, F. (2021). Die Vernutzung der Moore Deutschlands und ihre klimatischen Folgen. In Lozán, J. L., Breckle, S.-W., Graßl, H., & Kasang, D. (Hrsg.). Warnsignal Klima: Boden- und Landnutzung: wissenschaftliche Fakten (S. 125-135). Hamburg: Wissenschaftliche Auswertungen in Kooperation mit GEO. https://doi.org/10.25592/uhhfdm.9937

    Die Autoren des Greifswald Moor Centrums betonen die meistens noch wenig bewusste Bedeutung der Wiedervernässung von Mooren für das Speichern von CO2 sowie für das Verhindern der weiteren Emission dieses Klimagases aus trockengelegten Mooren. Dabei nennen sie schon in der Zusammenfassung nachdenklich machende Zahlen: „Die heute weitestgehend entwässerten Moore emittieren 53 Mio. t CO2-Äquivalente, das sind rund 7% der gesamten Treibhausgasemissionen Deutschlands. Die ca. 7% der Agrarflächen ausmachenden Moorstandorte verursachen damit 41% der landwirtschaftlichen Emissionen.“

    Beeindruckend ist übrigens auch der online verfügbare Vortrag zur großen Bedeutung der Wiedervernässung von Mooren für einen effektiven Klimaschutz. Dieser Vortrag wurde Mitte Februar 2022 beim Hanse Wissenschaftskolleg in Delmenhorst vom ebenfalls in Greifswald forschenden Moor-Experten Hans Joosten gehalten. Der Vortrag trug den Titel „Klima, Wasser, Moore“, dazu gab es auch ein passendes Interview in der Presse.

 

26. Februar 2022

BUND und Heinrich-Böll-Stiftung geben zu wichtigen Themen des Umweltschutzes sogenannten Atlanten heraus, die jeweils in kompakter Form Informationen mit veranschaulichenden Grafiken zum Thema enthalten. Gerade ist im Januar 2022 der Pestizidatlas mit Daten und Fakten zum Einsatz und zur Wirkung von Giften in der Landwirtschaft neu erschienen. Hier stellen wir das Heft vor.

Zum Lesen: Pestizidatlas 2022 und die Atlanten der Heinrich-Böll-Stiftung

Wissen in den Bereichen Natur-, Umwelt- und Klimaschutz, die ja eigentlich zugleich Menschenschutz darstellen, ist genug vorhanden und wird vielfach publiziert. Aber wer will immer wieder mehr dazu lesen?

Auch wenn Ihnen viele der Themen in Natur-, Umwelt- und Klimaschutz bewusst sind und Sie eigentlich schon genug wissen, möchten wir Ihnen hier konzentrierte Texte und Werke zu den oben genannten Bereichen vorstellen. Vielleicht könnte das eine kleine Kolumne im Newsletter des Regionalverbandes werden!? Denn … vielleicht ist ja doch noch etwas für Sie dabei?! Und … vielleicht kommen wir alle auch mehr und mehr ins verstärkte Handeln?!

Diesmal sind die auch vom BUND mit verantworteten, im Netz frei verfügbaren Atlanten der Heinrich-Böll-Stiftung Thema. Denn gerade ist im Januar 2022 der Pestizidatlas mit Daten und Fakten zu Giften in der Landwirtschaft neu herausgekommen.

Der Pestizidatlas 2022 und andere Atlanten der Heinrich-Böll-Stiftung

Die schon seit 2013 regelmäßig erscheinenden, als PDF-Datei frei herunter ladbaren Atlanten der Heinrich-Böll-Stiftung sind in der Regel ein Kooperationsprojekt mit dem BUND. Alle Hefte enthalten zum jeweiligen Thema bis zu zwanzig zweiseitige Artikel, die mit veranschaulichenden Info-Grafiken illustriert sind. Zuletzt wurde im Januar 2022 der Pestizidatlas publiziert.

Eigentlich wissen wir es ja, der Einsatz von Pestiziden – also von Substanzen, die als „Pflanzenschutzmittel“ oder als Biozide eingesetzt werden, um unerwünschte Organismen zu bekämpfen und damit die landwirtschaftliche Kultur zu schützen – ist in der Regel schädlich für Mensch, Natur und Umwelt. Zusammengefasst wird das Wichtigste in „Zwölf Lektionen“ auf zwei Seiten am Anfang des Atlanten (S. 8-9).

Wie sieht nun der „Pestizideinsatz in Deutschland“ aus? Welche gesundheitlichen und ökologischen (wie etwa das „Insektensterben“) Folgen gibt es? Welche Pestizide schwimmen im „Gewässer“ mit, welche werden „vom Winde verweht“? Welche Geschäfte werden mit Pestiziden gemacht, von wem und wohin werden diese ex- bzw. importiert, wie reagieren Behörden und Politik? Das sind einige der diskutierten Fragen.

Wenn Sie nun neugierig geworden sind, schauen Sie einfach mal in das Heft. Auch die anderen Atlanten, etwa der 2021 erschienene „Fleischatlas“ (Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel), dessen vier Vorausgaben 2018 und früher erschienen sind, oder der 2020 publizierte „Infrastrukturatlas“ mit „Daten und Fakten über öffentliche Räume und Netze“ bzw. der zum Pestizidatlas inhaltlich passende „Insektenatlas“ mit „Daten und Fakten über Nütz- und Schädlinge in der Landwirtschaft“ sind einen Blick wert.

Übrigens, die Texte und Infografiken der meisten Atlanten können von jedem – wie in diesem Beitrag – eins zu eins übernommen und nachgenutzt werden, wenn beim Zitieren die entsprechende Creative-Commons-Lizenz benutzt wird.

 

26.12.2021

Das Heizen mit Holz in Festbrennstofföfen und -kaminen ist eine der Hauptquellen von gesundheitsschädlichem Feinstaub und Ruß in unserer Atemluft. Mit der Kampagne „Kein Ofen ohne Filter“ der Deutschen Umwelthilfe (DUH) sollen Städte und Gemeinden dazu bewegt werden, Filter beziehungsweise Staubabscheider für Holzöfen vorzuschreiben. Auch für Lüneburg wäre dies sehr sinnvoll!

Kein Ofen ohne Filter! Mitmach-Aktion der Deutschen Umwelthilfe

Das Heizen mit Holz in Festbrennstofföfen und -kaminen ist eine der Hauptquellen von Feinstaub und Ruß in unserer Atemluft. Vermeintlich klimaneutrales Heizen mit Holz ist gesundheitsschädlich. Mit einer neuen Kampagne „Kein Ofen ohne Filter“ der Deutschen Umwelthilfe (DUH) sollen Städte und Gemeinden dazu bewegt werden, endlich Filter beziehungsweise Staubabscheider für Holzöfen vorzuschreiben. Da dies auch für Lüneburg sinnvoll ist, stellt der Regionalverband Elbe-Heide einen Antrag für eine Filterpflicht für Kaminöfen in Lüneburg an die Stadt.

Das Heizen mit Holz in Festbrennstofföfen und -kaminen, das sich auch in Lüneburg steigender Beliebtheit erfreut, ist eine der Hauptquellen von Feinstaub und Ruß in unserer Atemluft (vgl. auch das Projekt Clean Heat der Deutschen Umwelthilfe (DUH)). Gerade in der kalten Jahreszeit ist dies – vorwiegend durch den Geruch – feststellbar:

„Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Rauchgeruch und Luftverschmutzung durch Holzfeuerung. Übermäßiger Rauch und Geruch sind in der Regel auf Fehlbedienung oder gar Brennstoffmissbrauch zurückzuführen. “ (Flyer „Feinstaub aus Kaminöfen und Co.“ des DUH-Projektes, S.2)

Vermeintlich klimaneutrales Heizen mit Holz ist gesundheitsschädlich.

Mit Hilfe eines Online-Tools der DUH können alle Interessierten einen Bürgerantrag an die eigene Stadt oder Gemeinde stellen, damit das Thema in der Politik ankommt. Mit Hilfe des Tools erhalten alle Teilnehmenden per E-Mail ein personalisiertes Musterschreiben, um dieses dann per E-Mail oder als normalen Brief an die Bürgermeisterin oder den Bürgermeister im eigenen Wohnort zu senden und eine Filterpflicht für Holzöfen zu beantragen.

Besonders relevant ist das Thema auch vor dem Hintergrund, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO im September 2021 neue globale Luftgüteleitlinien mit strengeren Werten insbesondere beim Feinstaub verabschiedet hat.

Der Wert beim Feinstaub mit kleinen Partikeln (PM 2,5) wurde auf höchstens fünf statt bisher zehn Mikrogramm pro Kubikmeter Luft verschärft, bei den etwas größeren Partikeln (PM 10) nun 15 statt bisher 20 Mikrogramm.

Die Leitlinien sind Empfehlungen und müssten erst noch durch die Europäische Union (EU) und den Gesetzgeber festgesetzt werden, damit sie rechtlich verbindlich werden. Zur Zeit liegen die EU-Grenzwerte mit 25 Mikrogramm (PM 2,5) bzw. 40 Mikrogramm (PM 10) sogar deutlich höher als die alten Grenzwerte der WHO.

Laut WHO ließen sich weltweit „nahezu 80 % der Todesfälle im Zusammenhang mit PM 2,5 vermeiden, wenn die derzeitige Belastung durch Luftverschmutzung auf die in den Leitlinien vorgeschlagenen Werte gesenkt“ würde.

Dass auch in Lüneburg die Werte an Feinstaub oft deutlich über den neuen WHO-Werten liegen, zeigen zwei Screenshots vom 5. Dezember 2021 des in Lüneburg installierten Netzes von privat betriebenen Feinstaub-Sensoren mit Wer-
ten für PM 2,5 und PM 10.

Multiepistemische Sichten (auf Wissenschaft, auf …)

Schon länger befasse ich mich mit unterschiedlichen Sichten auf Wissenschaft und auch damit wie unterschiedlich Wissenschaft in den verschiedenen Wissenschaften verstanden werden kann. Beides wird von mir als wichtigen Teil einer umfassend verstandenen Informationskompetenz und auch Wissenschaft(lichkeit)skompetenz gesehen.

Immer mehr sind mir dabei auch Aspekte der Vielfalt der Wissenschaften wichtig geworden, etwa aus genderspezifischer Sicht (dazu vgl. etwa Iris Mendel: WiderStandPunkte : umkämpftes Wissen, feministische Wissenschaftskritik und kritische Sozialwissenschaften. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015, zu anderen, hier schon erwähnten Texten von Mendel) oder die Frage nach einem Verständnis von Wissenschaft(en) aus nicht-westlicher Perspektive (vgl. dazu etwa Boaventura de Sousa Santos: Epistemologien des Südens : gegen die Hegemonie des westlichen Denkens. Münster: Unrast, 2018).

All das passt nämlich auch zum Nachdenken über das und zum Weiterentwickeln des „ACRL Framework for Information Literacy for Higher Education“, das anlässlich der deutschen Übersetzung des Frameworks in begleitenden Aufsätzen in der Zeitschrift o-bib auch in Deutschland noch mehr Beachtung erfährt.

So bin ich vor Monaten bzgl. des Frames „Authority is Constructed and Contextual“ auf einen passenden Aufsatz mit dem Titel „Exploring worldviews and authorities : Library instruction in Indigenous Studies using Authority is Constructed and Contextual“ von Michael Dudley (College & Research Libraries News, 81(2), 66, 2020) gestoßen.

Die Thematisierung indigenen Wissens hier sowie das im obigen Aufsatz zitierte Buch mit dem Titel „Reshaping the University : Responsibility, Indigenous Epistemes, and the Logic of the Gift“ (UBC Press, 2007) von Rauna Kuokkanen, einer zwischen Finnland und Kanada wechselnden feministischen Wissenschaftlerin für „Indigenous Studies and Political Science“, haben mich vollends neugierig gemacht:

  1. auf andere Sichten auf die Welt, auf Wissen, auf Wissenschaften, auf …?
  2. auf Möglichkeiten auch im Bibliotheks- und Informationswesen, in den Informationwissenschaften, eine Sicht der Dekolonialisierung sichtbar zu machen?
  3. und vielleicht auch eine Sicht auf Informationskompetenz und Wissenschaft(lichkeit)skompetenz zu entwickeln, in die Sichten aus dem globalen Süden und/oder in die indigene Sichten einfließen könnten?

zu 1)

In ihrem spannenden Buch fragt Rauna Kuokkanen nach Möglichkeiten an Universitäten verstärkt ein auch indigene Sichten umfassendes Denken zu etablieren, sie betont mit Derrida, dass „politics and ethics of the university … implies something more than knowledge, something more than a constative statement.“ (Kuokkanen, 2007, S. 7) Anerkennung von Verantwortung für Kolonialisierung, Ausbeutung und Unterdrückung umfasst auch „Openness to various kinds of knowledge“ (S. 20).

Andere Sichten auf das Lernen, auf Wissen sind vielleicht besser geeignet oder gar notwendig (vgl. dazu etwa Herman, R.D.K. Traditional knowledge in a time of crisis: climate change, culture and communication. Sustain Sci 11, 163–176 (2016). https://doi.org/10.1007/s11625-015-0305-9), um anstehende Veränderungen aufgrund der vorhandenen und sich verstärkenden Krisen, wovon die Klimakrise als ökologisch-soziale für mich die entscheidenste ist, besser oder überhaupt bewältigen zu können.

Gegen Ende ihres Buches schreibt Kuokkanen „…, we can speak of ‚multiepistemic literacy‘ with literacy understood in a broad sense, as an ability not only to read and write but also to listen and hear, to learn, …“ (S. 155) Dieses „Multiepistemische“ ist daher in den Titel des Beitrags gewandert.

Eine Kurzfassung von Kuokkanens Buch ist übrigens als „Indigenous Epistemes“ (A Companion to Critical and Cultural Theory. Ed. I. Szeman, S. Blacker, and J. Sully. Wiley-Blackwell (2017). 313-326) publiziert.

zu 2)

Erste Ansätze zum Thema Dekolonialisierung im Bibliotheksbereich sind ja nun auch in Deutschland zu sehen.

Die spannendsten Veröffentlichungen des letzten Jahres im Bibliothekswesen insgesamt waren für mich die Texte von Nora Schmidt, die ihre Dissertation mit dem Titel „The Privilege to Select: Global Research System, European Academic Library Collections, and Decolonisation“ (2020, Lund University, Faculties of Humanities and Theology, https://doi.org/10.5281/zenodo.4011296) auch als deutsche Zusammenfassung veröffentlicht hat: „Überlegungen für die Dekolonialisierung wissenschaftlicher Bibliotheken in Europa“ (2021).

Im Januar 2021 gab es ein von österreichischen Kolleginnen organisiertes Online-Austauschtreffen „Decolonize the Library“ (Aufruf mit Programm und Video, und noch ein Bericht zur Veranstaltung), bei dem auch Nora Schmidt einen Impulsvortrag gegeben hat. Speziell die Betonung von „kultureller Demut“ durch Nora Schmidt, nicht nur bezogen auf das Wissenschaftssystem, gefällt mir.

Gespannt bin ich auch auf das Ergebnis eines Call for Papers der Zeitschrift Libreas mit dem Schwerpunkt Dekolonialisierung.

zu 3)

Macht es Sinn über so etwas Ähnliches wie Informationskompetenz aus Sicht des globalen Südens nachzudenken? Wer hat schon mal über Alternativen, konzeptionell und von der Benennung her, zum Konzept Informationskompetenz nachgedacht bzw. wer kennt solche, die einen indigenen Hintergrund haben oder ursprünglich aus dem „globalen Süden“ stammen?

Ich meine hier jetzt nicht „indigene information literacy“, also eine Informationskompetenz, um Ressourcen indigener oder postkolonialer Sichten auf die Welt, auf Geschichte, auf Wissen usw. zu ermitteln bzw. um Information und Literatur zur Disziplin „Indigenous Studies“ (etwa so etwas) zu finden.

Letztlich bewusst geworden ist mir die Bedeutung von Konzepten aus dem Süden, die im Norden und Westen nur langsam Fuss fassen, vor Jahren bei einem Vortrag zur Ernährungssouveränität, ein Begriff, der aus dem Süden stammt. Auch das „Buen Vivir“, einem Konzept ‚des guten Lebens‘ aus den Andenländern, gehört zu diesen Konzepten, die von Bedeutung für Süd und Nord, West und Ost sein können.

20 Jahre Wikipedia und andere Informationsgeschichten aus der Informationsgeschichte

„20 Jahre Wikipedia“ ist wie etwa auch das 10-jährige Jubiläum 2011 eine gute Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass Information und ihre Medien, wie etwa Enzyklopädien und Nachschlagewerke, auch eine Geschichte haben, so wie auch die Offenheit von Wissen eine Geschichte hat.

Der Wissenschaftshistoriker Mathias Grote hat in Form mehrerer Aufsätze – auch anläßlich des Wikipedia-Jubiläums – sich ebenfalls mit der Geschichte von Nachschlagewerken befasst.

Dieser Blog-Beitrag ist vielleicht auch die Gelegenheit, kleine Geschichten zur Information noch einmal zu publizieren, die in dem 2005 online gestellten und heute nicht mehr verfügbaren Informationskompetenz-Tutorial DISCUS (Projektbericht unter https://doi.org/10.15480/882.202) enthalten waren.

 

„Informationsgeschichten aus der Informationsgeschichte (Information stories from information history)“

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Wissenschaft(lichkeit)skompetenz als Metakompetenz

In den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) wurde vor Kurzem ein Aufsatz über „Science Literacy“ publiziert, der auch einen starken Bezug zu „media and information literacy“ aufweist und auf den Sheila Webber hingewiesen hat:

Emily L. Howell, Dominique Brossard: (Mis)informed about what? What it means to be a science-literate citizen in a digital world. PNAS April 13, 2021 118 (15) e1912436117; https://doi.org/10.1073/pnas.1912436117

Webber hebt das Verständnis von Wissenschaftskompetenz der beiden Autorinnen durch folgendes Zitat hervor, das auch meiner Sicht sehr nahe kommt:

„These abilities include: 1) Understanding how science is produced, and what that means for how science relates to broader society, or ‚civic science literacy‘; 2) understanding how science information appears and moves through media systems, or ‚digital media science literacy‘; and 3) understanding how people interpret science information when they come across it, or ‚cognitive science literacy.'“ (S.2)

Die hier beschriebene Wissenschaftskompetenz ist zu unterscheiden von anderen Sichten auf wissenschaftliche oder akademische Kompetenz („scientific literacy“). Gemeint ist nicht Kompetenz zum Erlernen wissenschaftlichen Arbeitens, um selbst wissenschaftlich tätig sein zu können. Gemeint ist auch nicht eine fachliche Kompetenz oder eine vertieftes Auskennen in einem oder mehreren Fachgebieten der Wissenschaften.

Aber auch hier muss man die Herausforderung der Übersetzung beachten. “Science” meint im englischen Sprachbereich eher Naturwissenschaft, also “physical sciences”. Der deutsche Begriff “Wissenschaft” wird hingegen (auch bei mir) viel weiter gefasst verwendet. Mehr zur Geschichte des Begriffs bei Paul Ziche u. Joppe van Driel: Wissenschaft (In: Europäische Geschichte Online EGO = European history online / hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte Mainz. 2011), ein Aufsatz, der sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch verfügbar ist.

Ich habe für den Begriff Wissenschaftskompetenz im Sinne des Aufsatzes in den PNAS mal den Begriff „Wissenschaftlichkeitskompetenz“ benutzt, etwa im Aufsatz „Offenheit und Wissenschaft“ mit einem

„Plädoyer für eine Wissenschaftlichkeits-Kompetenz, eine Form von Bildung, um Wissenschaftlichkeit und das Funktionieren von Wissenschaft(en) zu verstehen. Bildung umfasst ein Nachdenken über Wissenschaft, die Reflexion über die eigene Disziplin und deren sozialgesellschaftliche Einbettung in die moderne Gesellschaft.37 Dazu gehören Fragen danach, welche Chancen aber auch welche Grenzen Wissenschaften bieten, welche unterschiedlichen Sichten auf Wissenschaft(en), welche unterschiedlichen Methoden möglich sind u.a. So wie man zur ‚bewussten Förderung‘ kritischen Denken dieses „selbst zur Sprache bringen“ sollte,38 ist für einen im Rahmen von Bildung notwendigen kritischen Blick auf Wissenschaft(en), die Wissenschaft selbst und ihr Anspruch an Wissenschaftlichkeit zur Sprache zu bringen. Kritisches Denken ist wesentlich ‚metatheoretisch‘.39“ (S. 10-11 des Preprints, Literaturhinweise der Fussnoten siehe dort)

In meinem Positionspapier (2019) zur Informationskompetenz, publiziert via https://doi.org/10.18442/095, wird der Zusammenhang zur Wissenschaftskommunikation betont, dass diese Kompetenz der Wissenschaftlichkeit „eine kritische Wissenschaftskompetenz [darstellt], wie sie auch im Rahmen der Wissenschaftskommunikation (Priest 2013, https://doi.org/10.1177/270467614529707, nicht OA) oder […] als ‚epistemic competence‘ innerhalb der Fachdidaktik (Bußmann & Kötter, 2018, https://doi.org/10.23770/rt1819) diskutiert wird. Zu dieser Kompetenz gehört es, zu verstehen wie Wissenschaft funktioniert, wie Erkenntnisse durch definierte Methoden und kritische Beurteilung innerhalb einer akademischen Gemeinschaft oder Disziplin entstehen“ (S.24).

In einem als Paper nicht angenommenen und als Poster dann von mir zurückgezogenen Abstract für die nicht stattgefundene ECIL-Tagung im letzten Jahr hatte ich als Begriff „scientificity literacy“ gewählt:

Information literacy between scientific literacy and a civic literacy for a sustainable future – “scientificity literacy” as a boundary object

Objectives and Methodology
Teaching academic research methods and writing as well as information literacy is hardly possible without teaching an understanding of how (scholarly) knowledge emerges and how truth is understood. Scientific and scholarly work today is “collective in nature” as well as „heterogeneous“ and happens in “open systems” (Star, 1993). In a time of widespread digital collaboration, the current trend towards open research and open access, particularly questions the quality of research and makes the discussion, what characterizes scientificity, an issue. Information literacy is increasingly intertwined with media literacy, digital literacy, data literacy, metaliteracy, an „epistemic literacy“ (Tuomi, 2015), and, to emphasize the last in particular here, scientific literacy (Kuglitsch, 2018). Including epistemological challenges this paper shows that information literacy has strong connections to science communication (Priest, 2013), science education (Bußmann & Kötter, 2018) and even environmental education.
Based on a literature review at the intersection of epistemology, information and scientific literacy as well as on reflections about practical experiences of teaching courses in academic research methods and writing for Bachelor students, this paper introduces the concept of „scientificity literacy“. It offers exemplary topics to promote this concept and thus to enrich learning and teaching of academic research methods and writing.

Findings
The epistemological core of information literacy, called here “scientificity literacy”, may be considered as an abstract boundary object (Star, 1993, 102f), connecting different communities, professions, and disciplines, which also may have a different view on it. Making scholarship and science a topic on a meta-level, this core includes critical reflection about scholarship combined with an essential understanding of its functioning, an understanding, how the different scholarly disciplines arrive at their knowledge and insights, about their characteristics and history, theories and methods, their purposes, and benefits. Today “scientificity literacy” is a civic and social literacy, needed for the socio-ecological, sustainable transformation of a society, whose future more than ever depends on the responsible use of science and technology. It may also help to handle fake news. To make decisions grounded on scholarly arguments and research – whether in everyday life or as politicians (for example with regard to health or to environmental challenges as the climate change) – those who decide require an in-depth understanding of how the sciences work – a form of metaliteracy on scholarship and the sciences.

References
Bußmann, B., & Kötter, M. (2018). Between scientism and relativism: epistemic competence as an important aim in science and philosophy education. Research in Subject-matter Teaching and Leaning RISTAL, 1, 82–101.
Kuglitsch, R. Z. (2018). An interlocking and interdependent ecology: The intersection of scientific and information literacies. Reference Services Review, 46(2), 294–302.
Priest, S. (2013). Critical science literacy: What citizens and journalists need to know to make sense of science. Bulletin of Science, Technology & Society, 33(5-6), 138–145.
Star, S. L. (1993). Cooperation without consensus in scientific problem solving: Dynamics of closure in open systems. In S. Easterbrook (Ed.), Computer Supported Cooperative Work. CSCW. Cooperation or conflict? (pp. 93–106). London: Springer.
Tuomi, I. (2015). Epistemic literacy or a clash of clans? A capability-based view on the future of learning and education. European Journal of Education, 50(1), 21–24.

Keywords: information literacy, scientific literacy, epistemology, boundary object, socio-ecological transformation, academic research and writing

Ein Blick auf das Fachreferat in Bibliotheken

Wenn man mehr als 30 Jahre Fachreferent an einer kleinen wissenschaftlichen Bibliothek war, hat man sich eigentlich immer Gedanken um die Zukunft der eigenen Tätigkeiten gemacht und auch um die Zukunft der Institution, in der man arbeitet. Das Folgende fasst meine aktuelle Sicht auf die Entwicklung des Berufsbildes von Fachreferent*innen in Bibliotheken zusammen, verbunden im zweiten Teil mit einer Übersicht über laufende praktische Fachreferent*innen-Tätigkeiten in den letzten Monaten und Jahren, es stellt also den Versuch dar, die Fragen, warum Fachreferate in der Bibliothek und damit fachlich wissenschaftlich Ausgebildete immer noch wichtig scheinen und was Fachreferent*innen eigentlich machen, zu beantworten.

Grundlage des ersten Teils ist ein von mir verfasstes internes Papier „Zur Neukonzeption des Wissenschaftlichen Dienstes an der Universitätsbibliothek der TUHH (tub.)“ aus den Jahren 2018/19, hat also eher begründenden und werbenden Charakter. Grundlage des zweiten Teils ist der Versuch, im Rahmen der Einarbeitung von Kollegen die konkreten Tätigkeiten von Fachreferent*innen zu beschreiben. Vielleicht sind diese beiden „Abfallprodukte“ – inhaltlich enthalten diese sicher kaum etwas Neues – für die einen oder anderen doch noch interessant?!

Zu meinem eigenen, nun auch schon historischen Hintergrund im Bereich des Fachreferats siehe meinen Aufsatz aus dem Jahre 1999, Transfer zwischen Wissenschaft und Bibliothek : Beispiele aus der Praxis des Fachreferats Chemie und Verfahrenstechnik (https://doi.org/10.1515/bd.1999.33.11.1835) sowie einen Text von 2006, wo ich etwas zum Berufsfeld Bibliothek für Chemiker*innen, Helfer im Informationsdschungel geschrieben habe (Nachrichten aus der Chemie 54(2006)719-720).

 

Der wissenschaftliche Dienst an Bibliotheken

Zur Situation von Bibliotheken

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Veränderungen – zwischen Nicht und Noch-Nicht

„Zwischen Nicht und Noch-Nicht – zwischen vorzeitigen Nachrufen und konkreten Utopien“ – so lautete mal ein Blog-Beitrag von mir zur Lage wissenschaftlicher Bibliotheken, nun passt das auch auf mich persönlich.

Die folgenden Sätze hatte ich so oder so ähnlich im Rahmen meiner Verabschiedung aus dem Bibliotheksdienst an der Bibliothek der TU Hamburg (tub.) im März 2021 gesagt. „Alte weiße Männer“ reden ja bekanntlich öfters etwas länger. 😎 Zudem fördern es einschneidende persönliche Veränderungen sich Gedanken über die eigene Geschichte zu machen, sich an vergangene Aspekte zu erinnern bzw. neu bewusst zu machen. So ist es mir jedenfalls gegangen. Nun im Mai 2021 bin ich offiziell im Ruhestand.

Das „Nicht“ verstanden als „Noch-Nicht“ stammt vom Philosophen der Hoffnung, von Ernst Bloch. Für Bloch ist das Nicht kein „Nichts“ sondern ein Noch-Nicht und damit mit Veränderung und mit Zukunft sowie mit Hoffnung verbunden. Auch für mein Gefühl zur Zeit und wohl auch in der nahen Zukunft ist das Kommende ein Noch-Nicht aber auch eine Zeit der Ungleichzeitigkeit, auch ein Begriff u.a. von Bloch inspiriert.
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Digitale Versuche zur Lehre zum wissenschaftlichen Arbeiten

Corona hat seit dem Frühjahr 2020 auch die Lehre verändert. Lehrende produzierten mehr Videos, Podcasts oder hatten Zeit für neue Texte. Hier folgt eine Zusammenstellung meiner „Produkte“ zum Seminar wissenschaftlichen Arbeiten für Bachelor-Studierende an der TU Hamburg aus dem letzten Sommersemester.

Genaueres zur Situation nach 4 Wochen digitaler Lehre Ende Mai 2020 bietet auch eine Übersicht meines Kollegen Florian Hagen im Blog „tub.torials – Gedanken, Ideen und Materialien zu Offenheit in Wissenschaft, Forschung und Lehre“ der Universitätsbibliothek der TU Hamburg. Dieses Blog bietet eine Vielzahl weiterer Beispiele aus der Lehre zum wissenschaftlichen Arbeiten an der TUHH.

Wissenschaftliches Arbeiten in 2 Folien in 5 Minuten

Ingenieur(student)*innen haben ja selten Zeit und benötigen alles kurz und prägnant. 5 Minuten hatte ich als Gast in einem Online-Seminar „Erfolgreich Studieren“ Zeit, ein paar essentielle Tipps zum wissenschaftlichen Arbeiten aus Sicht von jemandem, der an einer Bibliothek arbeitet, vorzustellen.

Daraus entstand ein Video mit dem Titel „Wissenschaftliches Arbeiten in 2 Folien in 5 Minuten“. Die dazugehörigen Folien als PDF-Datei enthalten Links zu Angeboten der TU-Bibliothek.

Videos als asynchroner Input zu Themen des Wissenschaftlichen Arbeitens

Videos zur praktischen Literaturverwaltung

Gerade die praktische Auseinandersetzung schon vor Beginn einer Bachelor- oder Masterarbeit mit Literaturverwaltungsprogrammen wie Citavi oder Zotero sind für mich besonders wichtig. Schon beim Recherchieren können diese sinnvoll genutzt werden (“Keepin’ found things found”).

Neben einer umfangreicheren Übungsaufgabe zum Proben des Ernstfalls zeigen Videos die Nutzung von Literaturverwaltungsprogramms wie Citavi und Zotero in bestimmten Anwendungssituationen:

Podcast-Serie „Nachdenklichkeiten zum wissenschaftlichen Arbeiten“

Damit nicht immer nur Videos angeboten werden, entstand die Idee, zum Nachdenken Anregendes beim Thema Wissenschaftliches Arbeiten als Audio-Files anzubieten.

  1. Wissenschaftliches Arbeiten als Bedrohung
  2. Das Informieren hinterfragen
    (der passende Beitrag im Blog zum Seminar)
  3. Wie wirkt wissenschaftliches Arbeiten auf die Gesellschaft?
    (knapp 8 min, im Audiofile erwähnte Werke: Latour, Bruno: Cogitamus. Berlin: Suhrkamp, 2016. Sowie: Fleck, Ludwik:: Zur Krise der „Wirklichkeit“. Naturwissenschaften 17, 1929, 425–430.)

Zeit für Blog-Beiträge

Etwas Zeit zum Nachdenken und zum Aufschreiben desselben blieb im Laufe des Sommersemesters außerdem:

Was unterscheidet eigentlich die Begriffe „Wissenschaftliches Arbeiten“ und „Wissenschaftliches Schreiben“? Dazu hier mein Beitrag „‚Wissenschaftliches Arbeiten‘ oder ‚Wissenschaftliches Schreiben‘? Nachdenkliches zum Gebrauch von zwei Begriffen“ als Gastbeitrag auf dem Blog „Insights – dem Schaufenster zum digitalen Experimentierfeld an der TUHH“.

In Blog tub.torials wurden zudem die Texte von Studierenden zum Thema „Nachhaltigkeit und Digitalisierung“ aus einer Schreibaufgabe im Rahmen des Seminars Wissenschaftliches Arbeiten vom Wintersemester 2019/20 publiziert.

Folien eines Lehrinnovations-Projektes

Im vorherigen Wintersemester 2019/20 hatte ich als Ergebnis eines Projektes zur Lehrinnovation an der TUHH in der Verfahrenstechnik im Rahmen der Lehrveranstaltung “Grundlagen der Verfahrenstechnik und Werkstofftechnik” als Teil einer Vorlesungsreihe unter dem Titel „Einführung in die VT/BioVT“ Module zum wissenschaftlichen Schreiben bzw. Arbeiten integriert, die dazu dienten, eine am Beginn der Lehrveranstaltung gestellte Schreibaufgabe zu bearbeiten.

Im Rahmen dieser Module wird der Umgang mit Fachinformation (Recherche in Datenbanken) und das wissenschaftliche Schreiben, beides verbunden mit der Nutzung von Programmen zur Literaturverwaltung, thematisiert. Dies sind Punkte, die mit der Schreibaufgabe gleich praktisch angewandt werden. Gleichzeitig sind die Studierenden dadurch besser in der Lage, ihre Schwächen und Stärken beim wissenschaftlichen Schreiben zu reflektieren und einzuschätzen.

Neben der Vorstellung der Schreibaufgabe am Anfang gab ich drei inhaltliche Inputs, hier die Themen mit den Folien:

Einblicke in die Rolle der tub. in meiner Person als zuständiger Fachreferent beim Projektierungskurs Verfahrenstechnik an der TUHH bietet ein weiterer Blog-Beitrag bei tub.torials.

IK + KI – Informationskompetenz und künstliche Intelligenz

Aktivitäten der Informationskompetenz haben oft den Anspruch, dass mit ihr auch Fake News bekämpft werden kann, wie auch hier schon mal diskutiert wurde.

Damit kommt aber auch das Thema Künstliche Intelligenz und der Umgang mit Algorithmen im Rahmen von Informationskompetenz ins Spiel, wobei dies eigentlich auch bei einer Auseinandersetzung mit Data Literacy schon zu implizieren wäre. Somit hat sich das amerikanische „Project Information Literacy“ jetzt auch in einem Report mit Algorithmen beschäftigt.

Ein weiterer interessanter Aufsatz über Algorithmen und Informationskompetenz von Annemaree Lloyd, „Chasing Frankenstein’s monster: Information literacy in the black box society“ (Journal of Documentation, 2019, 75(6), 1475–1485, Open-Access-Version), auch im Report zitiert, ist in der Datei zum „Further Reading“ genannt.

Als einen „leading thinker“ (siehe S. 37-42 dieses Reports) kann man in Deutschland auch die Informatikerin Katharina Zweig bezeichnen, die in ihren Texten den Umgang mit Algorithmen erklärt, problematisiert und erläutert, wie man beim Umgang die Kontrolle behalten kann.

In ihrem populären Buch „Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl : wo künstliche Intelligenz sich irrt, warum uns das betrifft und was wir dagegen tun können“ (München: Heyne, 2019) fielen mir folgende Sätze in der Einleitung (vgl. Leseprobe beim Verlag) auf, die sich auf ihr Studium der Biochemie und Bioinformatik beziehen und bzgl. der wissenschaftstheoretischen Lücke im Studium der Natur- und Ingenieurwissenschaften meine Sicht genau teilen.

„Und auch hier fehlte allerdings die Statistik. Und in keinem der beiden Studiengänge wurden wir in Wissenschaftsthoerie unterrichtet – eine völlig unverständliche und gefährliche Lücke im Lehrplan fast aller natur[- und ingenieur-]wissenschaftlichen Studiengänge, die Fakten produzieren wollen und sollen.“ (S. 12, Zusatz T.H.)

Zum Nachdenken über das Verhältnis von Informationskompetenz und Fake News regt auch Ron Day in seinem Konferenzbeitrag „Before information literacy [Or, Who Am I, as a subject?of?(information)?need?]“ an (Proceedings of the Association for
Information Science and Technology 57 (2017) 57-60, Open Access Version).

Zur Problematik von Fake News im Zusammenhang mit wissenschaftstheoretischen Fragestellungen war mir vor Kurzem eine Stelle bei Roberto Simanowski aufgefallen. In seinen Buch „Stumme Medien: Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft“ (Berlin: Matthes & Seitz, 2018, Rezension 1, Rezension 2) findet sich Folgendes:

In dieser Situation [Fake News, „Wunsch nach Gewissheiten“] hilft wenig, die >falsche< Wahrheit mit der >richtigen< zu bekämpfen oder zwei >halbrichtige< zusammenzubringen, [...] Die Konfontation mit einer Gegenmeinung führt eher zur Verhärtung, weil diese sogleich als feindlich identifiziert wird und zur Abwehr gemahnt. [...] Das Problem der Falschmeldungen und Hassreden darf sich nicht in der Frage erschöpfen, wer die Wahrheit sagt, denn das liefe auf ein antiquiertes Modell von Wahrheit hinaus, wie es sich im Faktencheck als Klärung objektiver Tatsachen nun abzeichnet. Die Rückkehr zum Positivismus [...] verfängt sich als Erkenntnismethode aber im Ja/Nein-Dualismus und erneuert so die Illusion einer objektiven Wahrheit.

[…] Zu den zentralen Begründungselementen demokratischer Herrschaft […] zählt die Einsicht, ‚dass es in Bezug auf normative Fragen – und um solche handelt es sich in der Politik – so etwas wie eine absolute, immer gültige >Wahrheit< nicht gibt. [...]' Entscheidend ist [...], das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass in politischer, ethischer und religiöser Hinsicht mehrere, durchaus einander widersprechende Positionen ihre Berechtigung haben. Die Frage ist viel grundsätzlicher zu stellen: Gibt es die Wahrheit? […]

In der Konsequenz heißt dies, dass man Falschmeldungen und Hassreden nicht nur am Computerbildschirm bekämpft, sondern auch durch eine prinzipielle Diskussion der Frage, was Wahrheit ist und wie wir mit unterschiedlichen Vairianten davon umgehen. Die Fähigkeit, die dieser Ansatz vermitteln will, ist eine doppelte Herausforderung, ohne die Online-Kommunikation auf Dauer nicht funktionieren wird: Man muss sich selbst gegenüber skeptisch sein und der Gegenposition einräumen, auch recht zu haben. […] Es gilt, sich auf die Argumente des anderen wirklich einzulassen, […]“ (S. 71-73)

Und auch in den sogenannten „harten“ Wissenschaften ist Wahrheit nichts Endgültiges, sondern in der Regel nur etwas Vorläufiges bzw. umfasst mit eine gewissen Wahrscheinlichkeit versehene "Tatsachen" (vgl. auch den letzten Teil des oben schon verlinkten Beitrages zu Fake News und Informationskompetenz in diesem Blog). Wissenschaft hat auch mit Unsicherheit zu tun (vgl. das Zitat von Peter Høeg im unteren Teil eines Beitrags in diesem Blog).

Es gibt eben im wirklichen Leben nicht nur die Unterscheidung zwischen 0 oder 1, bzw. falsch oder wahr, was ja eine Grundlage für die Informatik darstellt, sondern auch mehrschichtige Differenzen, Vielfalt und Komplexität. Hier kommt das ins Spiel, was Thomas Bauer in seinem kleinen Buch "Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt" Reclam, 1980) Ambiguitätstoleranz nennt.

Was ist Bildung – für Paulo Freire?

Das Zitat von Ludwig Wittgenstein zum Stellenwert von Wissenschaft und Forschung in unserer Lebenswelt im letzten Beitrag in diesem Blog möchte ich nun einem Zitat des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire in seinem letzten, 1996 geschriebenen und 2008 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „Pädagogik ohne Autonomie : Notwendiges Wissen für die Bildungspraxis“ (Waxmann) gegenüberstellen.

„Genau das ist die Aufgabe der Wissenschaft, bei der sie sich ohne gesunden Menschenverstand des Wissenschaftlers von der Sache entfernen oder sich verlieren kann. Ich zweifle nicht am Misserfolg eines Wissenschaftlers, dem es an der Fähigkeit mangelt, Dinge vorherzuahnen, zu erkennen, dass der Schein trügen kann, Zweifel zuzulassen, rastlos weiterzuforschen, da er der Gewissheiten nicht allzu sicher ist. Mich macht ein Wissenschaftler traurig, – und manchmal macht er mir auch Angst -, der sich seiner selbst allzu sicher ist, der meint, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben, und nicht einmal eine Ahnung von der Vergänglichkeit seines eigenen Wissens hat.“ (S.59)

Bisher erschienen mir Bücher von Freire für mich nicht so richtig zugänglich, eventuell aufgrund mancher Wiederholungen in den Texten und des mir nicht immer geläufigen Kontextes seiner Betrachtungen. In dem hier zitierten Buch von Freire, das ich erst vor Kurzem entdeckt und gelesen habe, finde ich viele Sätze, die genau meinem Verständnis von Bildung, was für mich Lehren, Lernen und Bildung ausmacht, entsprechen – einem Verständnis, das ich selbst als Lehrender zumindest rudimentär versuche zu erreichen.

„Lehren [heisst nicht], Wissen weiterzugeben, sondern Möglichkeiten zu schaffen, Wissen zu erzeugen oder zu bilden. […] Wer lehrt, lernt beim Lehren, und wer lernt, lehrt beim Lernen. […] Das Lernen kam vor dem Lehren oder, in anderen Worten, das Lehren löste sich in der existentiellen Erfahrung des Lernens auf.“ (S. 24-25)

Bei Freire findet sich folgendes Plädoyer für Offenheit, die letztlich Teil von Bildung ist:

„Daher sage ich noch einmal, dass es unvermeidlich ist, radikal offen zu sein, sich selbst, anderen und der Welt gegenüber. Offen zu sein gegenüber dem anderen und gegenüber der Welt als solcher und mich dabei auf radikale Weise als kulturelles und historisches Wesen zu erfahren, unvollkommen und meiner Unvollkommenheit bewusst“ (S. 47)
„Auf der Unvollkommenheit des Wesens, das sich selbst als unvollkommen versteht, gründet sich Bildung als permanenter Prozess.“ (S. 55)
„Bildung als spezifisch menschliche Erfahrung [ist] eine Form des Eingreifens in das Weltgeschehen […]. (S. 91)

Zum Zusammenhang zwischen Kommunikation, Lernen und Erkenntnis:

„Ohne die Möglichkeit des Mitteilens gibt es kein Begreifen der Wirklichkeit.“ (S. 108)
„‚[D]ie Welt lesen‘ [… geht] dem ‚Worte-Lesen‘ stets voraus […]“ (S. 75)
„[Der Lernende übernimmt] von einem gewissen Moment an auch die Autorenschaft der Objekterkenntnis.“ (S. 113)

Dass Bildung viel mit epistemologischen Aspekten zusammenhängt – Freire spricht oft von „epistemologischer Neugierde“,(S. 26 und 39) die beim kritischen Lernen entsteht -, wird in einem weiteren Aufsatz von Freire mit dem Titel „Bildung als Erkenntnissituation“ in einem anderen Band mit Texten von Freire (Unterdrückung und Befreiung. Waxmann, 2007, S. 67-88) deutlich. Für Freire hat Bildung ihren Ausgangspunkt in der Mensch-Welt-Beziehung, d.h. der Mensch ist als Subjekt und „bewußtes Wesen“ in „permanenter Aueinandersetzung mit der Wirklichkeit“ (S.67). Dabei sind Mensch und Welt in einer Beziehung gegenseitiger Möglichkeiten der Veränderung und deren Problematisierung.

„Für uns ist ‚Bildung als Praxis der Freiheit‘ vor allem und in erster Linie eine wahrhafte Erkenntnissituation, in der der Erkenntnisakt nicht im erkennbaren Objekt sein Ende findet, da er sich anderen, ebenfalls erkennbaren Subjekten mitteilt. Lehrende-Lernende und Lernende-Lehrende stehen in einem befreiende Bildunsgprozeß beide als erkennende Subjekte den sie einander vermittelnden Objekten gegenüber. [… Unterricht ist] eine Begegnung, in der Erkenntnis gesucht und nicht übertragen wird. [… Daher ist] seine [des Lehrenden] Tätigkeit ein permanenter Erkenntnisakt.“ (S. 72, 73)

„[Bildung ist die] Beziehung zwischen erkennenden, durch das Erkenntnisobjekt einander vermittelten Subjekten […,] in der der Lehrer seinen Erkenntnisakt ständig von neuem vollzieht […]“ (S. 75)

[…] Bildung als Erkenntnissituation bedeutet, den Inhalt als Problem zu formulieren, auf den Lehrende und Lernende als Subjekte der Erkenntnis gemeinsam ihre Intention richten.“ (S. 79)

Schade, dass Freire in einer aktuellen und fundierten Übersicht über Bildungstheorien (Rieger-Ladich, M. (2019). Bildungstheorien zur Einführung. Hamburg: Junius-Verlag, – Rezension bei H/Soz/Kult) nicht erwähnt wird.

Das Buch von Markus Rieger-Ladich beginnt übrigens im ersten Teil der Einleitung ganz im Sinne der letzten Texte in diesem Blog mit der Frage, was eigentlich Wissenschaft ausmache, wie wissenschaftliche Forschung funktioniere, wer von welchem Standpunkt aus mit welchem Interesse welche wissenschaftlichen (und damit auch welche gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen) Herausforderungen behandelt bzw. erforscht (S. 11).

Neben dem polnischen Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck wird hier besonders auf die Naturwissenschaftshistorikerin und Frauenforscherin Donna Haraway Bezug genommen, von der ich vor Kurzem einen solchen schönen Satz gelesen habe wie

„‚Epistemologie‘ heißt, die Differenz zu erkennen.“
(Haraway, D. J. (1995). Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen (C. Hammer & I. Stiess, Hrsg.). Frankfurt a.M.: Campus-Verl., S. 48)

Dieses Zitat passt zu meine Sicht auf den Zusammenhang zwischen Information und Erkenntnistheorie, wie dieser durch andere Zitate – etwa wie „Informieren heisst Differenzen bestimmen.“ (Châtelet, F. (1975). Einleitung. In: Das XX. Jahrhundert. Frankfurt (M.): Ullstein. S. 7–11, S. 10) und „Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht.“ (Bateson, G. (1985). Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologi-sche, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 582) weiter verdeutlicht wird.

Warum ist Wissenschaftskommunikation für Informationskompetenz wichtig?

Was hat das Thema Wissenschaftskommunikation mit Informationskompetenz zu tun? Was hat Wissenschaftskommunikation mit Hochschulbildung zu tun? Warum ist Informationskompetenz für die Wissenschaftskommunikation wichtig und umgekehrt, warum ist die Wissenschaftskommunikation für Informationskompetenz wichtig?

Einige Texte der letzten Wochen gehören für mich zu möglichen Antworten auf meine obigen Fragen.

Wissenschaftskommunikation hochpolitisch

Die Herausforderungen des Klimawandels, die Friday-for-Future-Bewegung sowie Diskussionen um „Fake-News“ machen es immer notwendiger, Wissenschaft(en) für die Öffentlichkeit zugänglicher zu machen. Aber was heisst dies genau?

Vor kurzem wurde nun ein Grundsatzpapier zur Wissenschaftskommunikation des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Wissenschaftskommunikation publiziert, in dem es heisst:

„Es ist für unsere Gesellschaft von großer Bedeutung, dass es gelingt, sich zu zentralen Zukunftsthemen auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fakten zu verständigen. Transparente Kommunikation über Wissenschaft, ihre Arbeitsweisen und Haltungen ist hierfür eine wichtige Voraussetzung. Sie beginnt nicht erst in den Forschungseinrichtungen und Hochschulen, sondern schon von früher Kindheit an. Denn eine wissenschaftsmündige Gesellschaft setzt ein Grundverständnis von wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisprozessen sowie eine Fähigkeit zum kritischen Denken voraus. Alle Teile der Gesellschaft sind angesprochen.

Es gilt, Wissenschaftskommunikation in Zukunft stärker entlang der gesamten Bildungskette zu denken – von der Kita bis zur Hochschule und darüber hinaus.“ (S. 4)

Was hier für mich fehlt, ist zu erwähnen, dass es nicht „die“ Wissenschaft gibt sondern ganz unterschiedliche Wissenschaften. Zu einem „Grundverständnis“ von Wissenschaft gehört eine Reflexion über Wissenschaftlichkeit, also eine kritische Wissenschaftskompetenz, wie sie auch im Rahmen der Wissenschaftskommunikation etwa von Susanna Priest (Critical Science Literacy: What Citizens and Journalists Need to Know to Make Sense of Science, in: Bulletin of Science, Technology and Society 33, 5-6 (2013), S. 138-145) schon beschrieben wurde (vgl. auch Punkt 4 meines kürzlichen Positionspapiers zum Stand von Informationskompetenz).

Im Grundsatzpapier heisst es weiter

„Wissenschaftskommunikation zeigt auf, welchen Beitrag Wissenschaft und Forschung für die nachhaltige Entwicklung, die Innovationsfähigkeit und die Lebensqualität unserer Gesellschaft leisten. Sie stärkt die Verankerung von Wissenschaft in der Gesellschaft, die Wissenschaftsmündigkeit der Bürgerinnen und Bürger und die Demokratiefähigkeit der Gesellschaft insgesamt.
[…]
Wissenschaftskommunikation findet in der, aus der und über Wissenschaft statt. Die mit diesem Grundsatzpapier von Seiten des BMBF adressierte Wissenschaftskommunikation meint vor allem die allgemeinverständliche, dialogorientierte Kommunikation und Vermittlung von Forschung und wissenschaftlichen Inhalten an Zielgruppen außerhalb der Wissenschaft.“ (S. 2)

Zur Bildung über Wissenschaft gehört natürlich auch der Umgang von Politik mit „der“ Wissenschaft. Hierbei ist Kommunikation eigentlich keine Einbahnstraße. Die Wissenschaftsministerin forderte in einem Artikel in der Zeit (Nr. 47 vom 14. Novmber 2019) sogar noch „Wissenschaftler, redet mit uns“. Schade nur, dass Wisschaft Treibende manchmal nur dann gehört werden, wenn es politisch passend zu sein scheint. „Es wurde alles gesagt. Handeln!“ hieß es nämlich bei den Protesten der „Scientists for Future“, die sehr wohl Wissenschaftskommunikation in bestem Sinne betreiben, sich aber zu Recht von den politisch Verantwortlichen zu wenig wahrgenommen fühlen (Vgl. auch den Artikel zum Papier des BMBF in der Taz vom 22. November 2019, S. 18).

In einem Artikel der Wochenzeitung „Die Zeit“ zum BMBF-Papier zur Wissenschaftskommunikation und zum Protest der Scientists for Future (Die Zeit, Nr. 48 vom 21. November 2019, S. 39) wird auch auf eine gute Rede von Bundespräsident Steinmeier am 18. November 2019 zur Jahresversammlung der Hochschulrektorenkonferenz hingewiesen. Ausgehend von Umberto Ecos „Der Name der Rose“ geht es um Meinungsfreiheit uund Streitkultur mit dem Blick auf Universitäten und damit auch um Wissenschaftskommunikation.

Hochschullehre im digitalen Zeitalter

Beim Hochschulform Digitalisierung erschien im Oktober 2019 das Arbeitspapier 50 mit dem Titel „Was bedeutet Hochschullehre im digitalen Zeitalter? Eine Betrachtung des Bildungsbegriffs vor den Herausforderungen der Digitalisierung“.

Mit besonderem Blick auf die Lehre ist dieser Text angesichts der vielen Texte zur Digitalisierung an Hochschulen für mich von besonderem Interesse. Vielleicht liegt das auch daran, dass bei der AG des Hochschulforums Digitalisierung, die diesen Text zu verantworten hat, neben einem Informationsphilosophen auch ein Bibliothekar, ein Leiter einer UB, mit dabei waren. Im Text zitiert ist der separat veröffentlichte Text von Rafael Capurro zur AG mit dem Titel „Hochschulbildung im digitalen Zeitalter“.

Es geht in dem Papier des Hochschulforums also mehr um Bildung als um Kompetenzen, und das ist gut so. Neben (Fach-)Wissenschaft und Arbeitsmarktvorbereitung wird im Text des Hochschulforums besonders die Bedeutung der Persönlichkeitsbildung im Rahmen der Hochschulbildung hervorgehoben, wobei „digital literacy“ – umfassend als digitale Bildung gedacht – beim Umgang mit Wissen hervorgehoben wird. Sicher alles nichts Neues, aber für mich selten an einer Stelle so zusammengefasst.

Es geht bei der Wissenschaftsbildung wie bei der Wissenschaftskommunikation nicht nur um fachliche Inhalte. Zu solchem „(spezifischem Wissen) gehört […] auch die Reflexion von theoretischen und methodischen Fachvoraussetzungen (prozessuales Wissen)“ (S. 10 des Papiers). Es geht um Bildung über Wissenschaft(en) sowohl bei der „fachlichen Sozialisation“ an Hochschulen als auch bei jeglicher Sozialisation in der heutigen Welt. Eigentlich umfasst der „persönlichkeitsbildende Auftrag“ nicht nur der Hochschulen „die Befähigung zum gesellschaftlichen Engagement, zu ‚verantwortlichem Handeln in einem freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaat‘ […]“ (S. 10, das letzte Zitat im Zitat stammt aus dem Hochschulrahmengesetz von 1976!), egal in welcher Form von Lernumgebung man gerade steckt.

Sodann heisst es auf S. 11 bzgl. der Notwendigkeit „überfachlicher Kompetenzen“:

Zu denken ist hier beispielsweise an die Fähigkeiten, komplexe Zusammenhänge verstehen, darlegen und hinterfragen zu können, Recherchen anzufertigen sowie Fragestellungen und Hypothesen zu formulieren. Ferner seien Zeit- und Projektmanagement, sowie Reflexionsfähigkeit, aber auch Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz genannt. Implizites Ziel[…] beim Einüben wissenschaftlicher Arbeits- und Denkweisen ist es, Studierende, ‚in Situationen der Ungewissheit, konkurrierender Deutungen und Normenkonflikte, zugleich aber auch des Zeitdrucks und Handlungszwangs‘ handlungsfähig zu machen.16 Dabei sollen sie diese Fertigkeiten als Absolventinnen und Absolventen sowohl im wissenschaftlichen Bereich anwenden sowie auch auf außerwissenschaftliche Felder einer sich wandelnden Arbeitswelt, deren zukünftige berufliche Anforderungen allenfalls bedingt vorhersehbar sind, übertragen können.(Fussnote 16 zitiert: Pasternack, Peer, Zukunftsthemen der Hochschulforschung – Einige prognostische Blicke, in: Das Hochschulwesen 57/5 (2009), S. 168-74)

All das sind Aussagen, die nicht nur auf Hochschulbildung zutreffen, auch Wissenschaftskommunikation sollte deutlich machen, dass Wissenschaft auch mit Ungewissheit, Konkurrenz und anderen Zwängen zu tun hat. Und auch diese Aussagen zum „Orientierungswissen“ gehen weit über Hochschulbildung und Wissenschaftskommunikation hinaus:

„[D]em Erwerb von Orientierungswissen im Bildungsprozess [muss] ein hoher Stellenwert zuerkannt und entsprechend ausreichend Raum gegeben [werden]. Orientierungswissen bedeutet für uns die Realisierung von Handlungsmaßstäben, die zu Handlungsmaximen führen und so erst verantwortbare Entscheidungen ermöglichen. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung und im Bereich von Hochschulbildung ist der Erwerb von Orientierungswissen wichtig: Bloßes Verfügungswissen schafft hinsichtlich der Digitalisierung hauptsächlich instrumentelle Nutzungskompetenz. Das verstärkt einen grundsätzlichen Mangel, der Studierenden bewusst werden sollte: ‚Wir spüren, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.‘ (Ludwig Wittgenstein)“ (S. 30)

Das letzte Zitat von Wittgenstein taucht hier übrigens ohne eine Literaturangabe auf. Es stammt aus dem „Tractatus logico-philosophicus“ (Abschn. 6.5.2, Werkausgabe, Bd. 1, Suhrkamp 1984, S. 85) und es geht eigentlich noch weiter. Der Rest des Abschnittes 6.5.2. bei Wittgenstein lautet nämlich: „Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“ 😎 Wittgensteins Zitat beschreibt für mich in seiner Vollständigkeit genau die heutige Situation bei der Herausforderung des Klimawandels. Wissenschaft(en) kann bzw. können eben nicht alle Herausforderungen der Lebenswelt lösen bzw. beantworten. Was „technisch möglich ist“, hat immer auch eine gesellschaftliche und soziale Komponente, die berücksichtigt werden muss, was manchmal – auch von Hochschulen – vergessen wird.

Noch ein wichtiger Aspekt wird im Arbeitspapier kritisch angesprochen:

„Sie betrifft die Abhängigkeit der Hochschule und damit ihrer Forschung und Lehre von externen Soft- und Hardware-Architekturen. Hochschulische Forschung und Lehre ist bereits vielfach auf die vorgefertigten Lösungen großer Anbieter angewiesen und liefert sich bzw. die eigenen User ggf. den Verwertungsinteressen der externen Digitalkonzerne aus. Selbst die Entwicklungen in den einschlägigen Fachdisziplinen setzen womöglich auf Quellcodes und Architekturen auf, die als ‚Black-Box‘ in Kauf genommen werden müssen. Es gilt diese Entwicklung sorgfältig zu bedenken: aus wissenschaftlichen und aus politischen Gru?nden – eben und gerade wegen der davon betroffenen Autonomie.“ (S. 21)

An anderer Stelle heisst es

„Das Erlernen von wissenschaftlichen Denk- und Arbeitsweisen muss daher so angelegt sein, dass es die kontrollierte instrumentelle Nutzung von digitaler Technologie unter den eigenen Prämissen erlaubt. Das heißt, es muss verhindert werden, dass die wissenschaftlichen Prämissen durch die Strukturen und Prozesse spezifischer digitaler Konzernkulturen schleichend ersetzt werden. Die Notwendigkeit eines kritischen Umgangs mit Algorithmen, ein spezifisches Algorithmenverständnis als Teil von Quellenkritik im digitalen Zeitalter, wird hier dringend offenbar.“ (S. 18)

„Die zunehmende Komplexität und Intransparenz von eingesetzter Hard- und Software, der unterschiedliche Einsatz mathematischer Modelle und darauf basierender Simulationen unterminiere zudem ein weiteres wesentliches wissenschaftliches Prinzip, nämlich das der transsubjektiven Überprüfbarkeit.“ (S. 19, die Fußnote nach diesem Satz nennt: Wehr, Marco, Wie die Wissenschaft das Nachdenken verlernt, in: FAZ v. 9. Feb. 2016)

All das sind Herausforderungen, die sich immer mehr auch für den bewussten Umgang mit der Digitalisierung im Alltag stellen.

Als Ausweg wird im Arbeitspapier die Nutzung tendenziell offener Ressourcen explizit genannt:

„Dabei sollte angesichts der das Individuum immens formierenden und die Welt vorformatierenden Tendenz digitaler Medien und Formate der Gedanke Berücksichtigung finden, dass Bildung immer ein kreatives und exploratives Sichselbstentwerfen ist, das Freiräume für Erprobung und Selbstorganisation braucht. [… So] bieten z. B. ‚open educational resources‘ (OER) Möglichkeiten, Hochschulbildung als gestaltende Auseinandersetzung mit der Digitalität zu realisieren, indem sie zur kreativen Umgestaltung, zur Erfindung von Neuem und Widerspru?chlichem, zum Umfunktionieren und zur kollaborativen Erarbeitung und Verbreitung genutzt werden können. Gerade angesichts der formierenden Kraft des Digitalen darf die Hochschule ihren Auftrag zur Einübung in Autonomie nicht vernachlässigen.“ (S. 31)

Aber auch bei Befürwörtern von OER oder in der Friday-For-Future-Bewegung ist es immer wieder erstaunlich – andererseits aber aus Gründen der Bequemlichkeit auch verständlich – zu beobachten, mit welcher Selbstverständlichkeit Dienste wie WhatsApp oder Google Docs benutzt werden, ohne dies grundsätzlich zu hinterfragen.

Zu den eingangs gestellten Fragen: Reflexion über Wissenschaft sollte sowohl Teil von Hochschulbildung als auch Teil von Wissenschaftskommunikation in der digitalen Welt sein. Ganzheitlich verstandene Informationskompetenz, wie sie in diesem Blog beschrieben ist, kann für beide einen wichtigen Beitrag leisten.

Wozu ist eigentlich das amerikanische Framework zu Informationskompetenz gut?

Anlässlich eines von mir endlich gelesenen Aufsatz zum amerikanischen Framework for Information Literacy for Higher Education soll dieser Blog-Beitrag deutlich machen, warum es auch für eine Bibliothek wichtig ist bzw. sein kann, sich für unsere Aktivitäten zur Förderung von Informationskompetenz und zum wissenschaftlichen Arbeiten mit diesem Framework zu beschäftigen. Ich habe diesen Text auch in einem internen Blog der Universitätsbibliothek der TU Hamburg veröffentlicht.

Sauerwein, T. (2019). Framework Information Literacy – Aspekte aus Theorie, Forschung und Praxis. Bibliothek Forschung und Praxis, 43(1), 126–138. https://doi.org/10.1515/bfp-2019-2027 (Open-Access-Version https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/20519)

Das Framework ersetzt für mich die klassichen Standards zur Informationskompetenz. Es besteht aus 6 abstrakten Konzepten (Frames = Rahmen), die zur Beschreibung dessen dienen, was Studierenden als Wichtigstes vermittelt wreden sollte.

  • „Autorität ist ein Konstrukt und kontextabhängig [Authority Is Constructed and Contextual]
  • Informationen entstehen in einem schöpferischen Prozess [Information Creation is a Process]
  • Informationen sind wertvoll [Information Has Value]
  • Forschung ist (Hinter-)Fragen [Research as Inquiry]
  • Wissenschaft ist Austausch [Scholarship as conversation].
  • Recherche ist strategische Erkundung [Searching as a Strategic Exploration]“
    (S. 128, OA-Version S. 5)
„Autorität ist ein Konstrukt und kontextabhängig [Authority Is Constructed and Contextual] Informationen entstehen in einem schöpferischen Prozess [Information Creation is a Process] Informationen sind wertvoll [Information Has Value] Forschung ist (Hinter-)Fragen [Research as Inquiry] Wissenschaft ist Austausch [Scholarship as conversation]. Recherche ist strategische Erkundung [Searching as a Strategic Exploration]“.27

Visualisierung des Framework for Information Literacy for Higher Education
Erstellt von der AG Informationskompetenz des Bibliotheksverbunds Bayern in Kooperation mit Studierenden der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern, Fachbereich Archiv- und Bibliothekswesen
CC BY-NC-SA 4.0

Die bayerische AG Informationskompetenz hat nun vor kurzem eine Visualisierung der 6 Frames veröffentlicht (Nicole Scherbel: Framework turns visual : Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von Informationskompetenz. Bibliotheksforum Bayern 13 (2019) 117)

Der Aufsatz von Tessa Sauerwein erläutert sehr schön, dass die Frames den Zusammenhang zwischen Informationskompetenz und dem wissenschaftlichen Arbeiten bzw. zwischen Informationskompetenz und dem „Forschungsdiskurs“ rund um „Guter wissenschaftlicher Praxis“, Open Science und Open Access, aber auch rund um die Diskussion um Fake-News aufzeigen.

„Studierende [… sollen nicht nur] nach Literatur recherchieren […] lernen, […] sondern […] verstehen, wie die darin veröffentlichten Ergebnisse zustande kommen.“ (S. 133, OA-Version, S. 13)

Zudem bietet er Anregungen, die Frames selbst in der eigenen Praxis zu nutzen, evtl. auch bei Führungen innerhalb der Bibliothek!? Gerade die Beispiele zu den Frames (S. 133-134, OA-Version, S. 12-14) in dem Aufsatz können dazu dienen, das, was Studierende und Nutzende in der Bibliothek eigentlich machen, – warum sie nach Literatur suchen, warum der Katalog oder Google Scholar dafür vielleicht nicht ausreichen usw. – zu hinterfragen und für uns als in der Bibliothek Arbeitende bewusst zu machen.

In dem Text von Tessa Sauerwein wird erwähnt, dass das Framework „hard to teach“ ist, aber vielleicht bedeutet Lehre hier auch, zu lernen, die Frames für Diskussionen als Anregungen zu nehmen bzw. in Lern- oder Auskunftssituationen auf bestimmte dieser Frames implizit hinzuweisen.

Positionspapiere zum aktuellen Stand zur Informationskompetenz

Passend kurz vor der „Global Media and Information Literecay Week“ 2019 der UNESCO fand am 18. und 19. Oktober 2019 an der Universität Hildesheim die Eröffnungstagung des Projektes "Informationskompetenz und Demokratie (IDE) – Bürger, Suchverfahren und Analyse-Algorithmen in der politischen Meinungsbildung" statt.

Durchgeführt wird das Projekt federführend von Joachim Griesbaum und Thomas Mandl vom Hildesheimer Institut für Informationswissenschaft & Sprachtechnologie sowie von Elke Montanari vom Institut für deutsche Sprache und Literatur.

Die Eröffnungstagung führte mit einem spannenden Programm Menschen aus den Bibliotheken, den Schulen, den Informationswissenschaften, den Medien- und Politikwissenschaften, aus der Deutsch-Didaktik sowie aus dem Journalismus zusammen.

Vor der Tagung wurden die Teilnehmenden um Positionspapiere gebeten, in denen vier Fragen der Veranstaltenden beantwortet werden sollten. Mehr als 20 Teilnehmende nutzten die Gelegenheit, ihre Position schriftlich darzustellen. Das vor der Tagung online veröffentlichte Dokument

„Positionspapiere Informationskompetenz und Informationskompetenzvermittlung : Aktueller Stand und Perspektiven“

Auch publiziert im Repository der Universität Hildesheim unter https://doi.org/10.18442/095

bietet eine Vielfalt von Sichten von unterschiedlichsten deutschen Akteurinnen und Akteuren auf Informationskompetenz und damit zusammenhängende Kompetenzen.

Meine Antworten auf die Fragen zum Positionspapier sind auch hier unten zu finden:

„1. Was ist Informationskompetenz? Was macht Informationskompetenz ist Kern aus? Wie weit greift sie, wo endet sie? Inwiefern spielt Informationskompetenz mit weiteren Kompetenzen zusammen?“

  • Informationskompetenz ist auch und vor allem praktizierte soziale Epistemologie (vgl. Fussnote 1, S. 59 in Hapke, 2018, https://doi.org/10.15480/882.1759), also primär eine epistemische Kompetenz („epistemic literacy“, Tuomi, 2015, S.3-4, http://www.meaningprocessing.com/personalPages/tuomi/articles/EpistemicLiteracyOrAClashOfClans.pdf ) zum Umgang mit der Welt, also die Kompetenz das eigene Erkennen und das anderer Menschen zu verarbeiten und kritisch zu hinterfragen, bei Berücksichtigung all der Informationen, die heutzutage auf einen einstürmen (passive Komponente) und gleichzeitig als aktive Komponente, die Kompetenz, Wissenselemente zu erzeugen und diese zu verbreiten, zu publizieren unter Berücksichtigung ethischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen (etwa Aspekte wie Open Access oder Creative-Commons-Lizenzen). Unterschiedliche Sichten auf Informationskompetenz etwa eine funktionale, eine individuell-situative und eine kritisch-soziale (vgl. Abbildung unten) gehören zu jeder kritischen Auseinandersetzung mit Informationskompetenz.
     
  • Informationskompetenz liegt auf einer Ebene mit Begriffen wie Medienkompetenz, digitale Kompetenz und Datenkompetenz oder auch „metaliteracy“ und ist letztlich Teil von Bildung. Eine Diskussion darüber, welcher dieser Begriffe einen oder mehrere der anderen umfasst, ist weitgehend sinnlos. All diese Kompetenzen werden jeweils von teils unterschiedlichen Gemeinschaften auch als Teil ihrer Agenda benutzt, um die eigene Klientel in der Öffentlichkeit positiv sichtbar zu machen, damit ihre eigene Bedeutung zu betonen und um letztendlich das eigene „Überleben“ zu sichern. Dies gilt etwa bzgl. Informationskompetenz bei Bibliotheken und verstärkt auch in den Informationswissenschaften (Ich weiss, ich übertreibe und provoziere hier!! 😎 ), bzgl. Medienkompetenz bei den Medienwissenschaften (besonders der Medienpädagogik), bzgl. digitaler Kompetenz und Datenkompetenz in der Informatik und den Computerwissenschaften.
     
  • Trotz eines Anklangs, der zu sehr etwas Defizitäres betont, umfasst das englische „literacy“, verstanden als „engaging with information in all of its modalities“ (O’Farrill, 2008, p. 167, http://doi.org/10.1515/libr.2008.017, nicht OA), all diese Begriffe.
     
  • Nicht nur auf Hochschulen bezogen gehört eine Kompetenz der Wissenschaftlichkeit dazu (Hapke, 2018, https://doi.org/10.15480/882.1759), eine kritische Wissenschaftskompetenz, wie sie auch im Rahmen der Wissenschaftskommunikation (Priest 2013, https://doi.org/10.1177%2F0270467614529707, nicht OA) oder ähnlich wie oben als „epistemic competence“ innerhalb der Fachdidaktik (Bußmann & Kötter, 2018, https://doi.org/10.23770/rt1819) diskutiert wird. Zu dieser Kompetenz gehört es, zu verstehen wie Wissenschaft funktioniert, wie Erkenntnisse durch definierte Methoden und kritische Beurteilung innerhalb einer akademischen Gemeinschaft oder Disziplin entstehen (siehe auch meine Antworten zu Punkt 4).
     

Sichten auf Informationskompetenz – zwischen klassischer und kritischer Informationskompetenz. Online via https://doi.org/10.5281/zenodo.908479

 

„2. Wie soll man Informationskompetenz vermitteln? Wie soll Informationskompetenz am besten vermittelt werden? Wie werden Menschen am besten zu informationskompetentem Verhalten motiviert und geführt?“

  • Kompetenzen können nur Menschen selbst entwickeln. Man kann dies aber fördern, etwa durch das Ermöglichen forschenden Lernens.
     
  • Mir gefällt, dass Kompetenzen auch als Plug-Ins verstanden werden können (Latour, Bruno. Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Suhrkamp, 2007, S. 357ff, s.a. bzgl. Informationskompetenz Hapke, 2015, S. 8, https://doi.org/10.15480/882.1249). In Abhängigkeit vom situativen Kontext einer Handlung werden eine oder mehrere Kompetenzen aufgerufen, um diese Handlung in welcher Richtung auch immer zu bewältigen. Nach erfolgter Handlung ist die Situation neuer Teil der Plug-Ins und steht als „Handlungskompetenz“ im Weiteren zur Verfügung. Welches Plug-In abgerufen wird bzw. wie in einer spezifischen Situation gehandelt wird, ist abhängig von vorausgegangenen Erfahrungen, Einsichten in die jeweiligen Prozesse zusammen mit einem Verständnis der beteiligten Menschen, Objekte, Institution usw., etwas was man auch Bildung für Handlungskompetenz nennen könnte.
     
  • Förderung von Informationskompetenz durch Beteiligung von Schüler_innen, Studierenden und Bürger_innen an Projekten im Rahmen von einer Bürgerwissenschaft („Citizen Science“) oder in sogenannten „Real-Laboren“, vorausgesetzt diese beteiligen die Teilnehmenden an der Auswahl von Zielen und Themen solcher Projekte. Dabei sollten diese auch nach der eigentlichen Projektphase weiter bestehen und Teil des Alltags der Beteiligten werden. Eventuell ist hier auch eine Integration von „Service Learning“ sinnvoll.
     

„3. Welches sind die zentralen Entwicklungen im Bereich der Informationskompetenz und Informationskompetenzvermittlung?
Wie entwickelt sich Informationskompetenz? Welche Bereiche werden künftig wichtiger?“

  • Eine wichtige Entwicklung war das „Framework for Information Literacy“ der ACRL, weil es Bereiche sozialer Epistemologie mit berücksichtigt. So lassen sich innerhalb der Frames „Authority Is Constructed and Contextual“ und „Information Creation as a Process“ Themen wie das Peer Review sowie der „Mythos der Objektivität“ ansiedeln und damit, dass jede Information im Kontext ihrer Entstehung zu bewerten ist. „Information Has Value“ thematisiert den Warencharakter von Information, aber auch deren Bedeutung als Mittel zum Lernen, zum Weltverständnis sowie zum Verhandeln um Einfluss. Produktion und Verteilung von Information werden also durch rechtliche und sozio-ökonomische Interessen beeinflusst. „Scholarship as Conversation“ betont ein wichtiges Kennzeichen von Wissenschaft, die immer Teil einer diskursiven Praxis ist, welche von Kommunikation und Wissensaustausch, aber auch von konkurrierenden Ansichten und Theorien lebt, die oft nur vorläufigen Charakter haben (vgl. Hapke, 2015, S. 14, https://doi.org/10.15480/882.1249).
     
  • Im allgemein gesellschaftlichen Bereich wird die Entwicklung von Informationskompetenz beeinflusst durch die Herausforderungen, die durch „Fake News“ oder „alternative Fakten“, aber auch durch „Social Media“ und durch „Big Data“ entstehen (etwa Datenschutz, Abhängigkeit von Algorithmen).
     
  • Die durch wachsende Offenheit von Forschung („open science“) und durch digitale Kollaboration entstehenden Herausforderungen tragen dazu bei, dass Themen wie das Publizieren (auch via Open Access) sowie Forschungsdaten von informationskompetent Agierenden berücksichtigt werden müssen.
     
  • Auch „digital literacy“ mit ihren C’s (oder auch K’s) – etwa critical thinking, creativity, communication, collaboration, culture, citizenship, curation – ist heute ebenso wie „data literacy“ Teil der Entwicklung von Informationskompetenz.
     
  • Eine Verbindung mit dem forschenden Lernen unterstreicht, dass Informationskompetenz im oben skizzierten holistischen Sinne zum Forschen gehört.
     

„4. Weitere Aspekte des Themas – Welche? Warum sind diese wichtig? Was folgert daraus?“

  • Letztlich kann man Informationskompetenz auch als transformatorische Kompetenz definieren als „the ability to read and utilize information about societal transformation processes, to accordingly interpret and get actively involved in these processes“ (Schneidewind, 2013, p. 83, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:wup4-opus-49380)
     
  • Das Verstehen von Wissenschaft, die Rolle von Wissenschaft und Technik in der modernen Gesellschaft ist heutzutage nötig, um als Bürger_in und damit auch als Politiker_in die Herausforderungen der kommenden und schon laufenden Transformation reflektiert anzugehen und wenigstens den Versuch einer Bewältigung zu starten. Zu diesen Herausforderungen gehören etwa die Digitalisierung, der Klimawandel, die gesamte Umweltproblematik sowie das seit langem bestehende Ungleichgewicht in der Welt zwischen Nord und Süd, Ost und West, Arm und Reich.
     
  • Informationskompetenz als Bildung bezieht sich auf das Verstehen, wie Wissenschaft(en), Medien und Computer funktionieren und wie sie Umwelt, Gesellschaft (Politik, Wirtschaft usw.) und den Menschen beeinflussen und von diesen beeinflusst werden. Sie dient der Orientierung, dem Verständnis und Bewusstsein für das Funktionieren von gesellschaftlichen und damit auch wissenschaftlichen Prozessen mit all ihren beteiligten Individuen, Institutionen und Objekten, in Latours Sprache mit ihren menschlichen und nicht menschlichen Akteuren.
     
  • Informationskompetenz oder auch die auf gleicher Ebene liegenden Kompetenzen (siehe oben bei Punkt 1) sind für mich für eine demokratische Gesellschaft unerlässlich, um in der Gesellschaft, etwa auch in der Bildung eine möglichst große Vielfalt und Diversität zu erreichen und abzubilden, die die unterschiedlichen Sichten auf Wahrheit und Realität umfasst. Um die immense Komplexität der Wirklichkeit sichtbar zu machen, so dass man nicht auf einfache Antworten und Lösungen hereinfällt, ist Informationskompetenz im hier gemeinten holistischen Sinne notwendig, denn bei kaum einem Thema oder einer Herausforderung gibt es heutzutage, wenn man genauer hinschaut und ggf. tiefer einsteigt, solche einfachen Antworten und Lösungen.
     
  • Letztlich landet man mit dem hier propagierten Verständnis von Informationskompetenz bei Oskar Negts „gesellschaftlichen Kompetenzen“ aus dem Jahre 1993 (Zeuner, 2013, http://www.erwachsenenbildung.at/magazin/13-20/meb13-20.pdf; Negt, 1993, S. 662ff, http://library.fes.de/gmh/main/pdf-files/gmh/1993/1993-11-a-657.pdf): Kompetenz der Selbst- und Fremdwahrnehmung, technologische Kompetenz, ökologische Kompetenz, historische Kompetenz und Gerechtigkeitskompetenz.
     

Verschiedenes zum "Wissenschaftlichen Arbeiten"

Zum forschenden Lernen, was auch an der TU Hamburg (TUHH) eine große Rolle spielt, kann durchaus auch das Schreiben und Publizieren von Studierenden gehören, womit das wissenschaftliche Arbeiten explizit thematisiert wird. Seit etwa einem Jahr wurde daher von mir eine Reihe von Beiträgen mit Gedanken und Tipps zum wissenschaftlichen Arbeiten für Lehrende und Betreuende an der TU Hamburg aus Sicht der tub. geschrieben. Diese wurden an der TU Hamburg in einem internen Informationsangebot zum forschenden Lernen, was die Social Networking Software HumHub benutzt, eingestellt und sind, leicht angepasst, in diesem Beitrag hier gesammelt.

1. Wissenschaftliches Arbeiten oder Schreiben?

Bei Diskussionen um das Lernen ist es mir wieder bewusst geworden: Viele sprechen eher vom „Wissenschaftlichen Schreiben“, etwa das Zentrum für Lehre und Lernen der TUHH oder auch im Titel der jährlich im Frühjahr federführend von der zentralen Studienberatung organisierten „Kleinen Nacht des wissenschaftlichen Schreibens an der TUHH“, an der auch die tub. seit Jahren beteiligt ist.

Die TUHH-Bibliothek (tub.) nennt das von ihr federführend durchgeführte NTA-Seminar für Bachelors aber „Wissenschaftliches Arbeiten“. Dieses wird von einem Blog begleitet, als eine Art Schaufenster, damit Seminar-Inhalte auch von Dritten, insbesondere Studierenden, die keinen Seminarplatz erhalten haben, genutzt werden können.

Was unterscheidet die Begriffe „Wissenschaftliches Arbeiten“ und „Wissenschaftliches Schreiben“?

Der Unterschied ist wie so oft eine Frage der Sicht.

  • Aus Bibliothekssicht umfasst der Begriff „Wissenschaftliches Schreiben“ zu wenig, da unser Potential in der tub. tendenziell eher beim Umgang mit Fachinformation, mit Literaturverwaltung und bei der Publikationsberatung liegt und das eigentliche Schreiben eher am Rande vorkommt, wobei Schreiben beim Forschen von Anfang an dazugehören sollte.
  • Aus Sicht von Studierenden und Forschenden fehlen beim Begriff „Wissenschaftliches Arbeiten“, so wie wir ihn in der tub. benutzen, aber oft die Herausforderungen „wirklichen“ Arbeitens, etwa Fragen wissenschaftliche Methodik, das Experimentieren, die Dokumentation und das Laborbuch, statistische Auswertungen und vieles mehr.

Die Autorin Andrea Klein eines schönen Buches mit dem Titel „Wissenschaftliche Arbeiten schreiben“ (2017, in der Lehrbuchsammlung unter WHN-327) hat sich in ihrem Blog mit dem Unterschied auch noch weiter auseinandergesetzt.

**Wie nehmen Sie den Unterschied zwischen „Wissenschaftlichem Arbeiten“ und „Wissenschaftlichem Schreiben“ wahr?**

2. Zitieren

Zum Zitieren als wichtigem Thema beim wissenschaftlichen Arbeiten gibt es eigentlich nur sehr wenige generelle Tipps.

Aufgrund einer Nachfrage aus dem Promotionsausschuss, ob es denn zum Zitieren eine DIN-Norm gebe, die man Promovierenden empfehlen könne, habe ich vor Jahren eine kurze Handreichung zum Zitieren geschrieben, die 2018 aktualisiert wurde:

BTW:

Eine solche DIN-Norm gibt es übrigens,, dazu aber viele Tausend weitere Zitierstile, je nach Disziplin, Verlag, Zeitschrift oder gar Institut, so dass man von Normung nicht wirklich sprechen kann. Literaturverwaltungs-Software wie Citavi und Zotero unterstützt einen, um Literaturquellen automatisch zu verwalten und um Literaturverzeichnisse automatisch je nach Zitierstil automatisch zu erstellen.

3. Wissenschaftliches Arbeiten in 45 Minuten

Eigentlich geht das nicht: 45 Minuten hatte ich im Dezember 2018 Zeit, um in einem Bachelor-Seminar der Berufswissenschaften für das Thema „Wissenschaftliches Arbeiten“ aus Bibliothekssicht zu sensibilisieren.

Das waren die durch vorheriges Recherchieren zur Verfügbarkeit von Dokumenten und durch Live-Vorführungen aufgegriffenen Themen:

  • Möglichkeiten zum Finden von Fachinformation in Fachdatenbanken
  • Wie kann ich sicherer sein, beim Informieren nichts Wesentliches zu übersehen? (Antwort: „Mit Datenbanken und Suchbegriffen spielen“)
  • Literaturverwaltungsprogramme wie Citavi und Zotero schmackhaft machen:
    • beim Recherchieren nutzen („Keepin‘ found things found“),
    • beim Lesen fürs „Notizen machen“ („Schreiben beginnt schon beim Lesen“) und zur Wissensorganisation des Gelesenen, Erforschten und Gedachten nutzen sowie
    • beim Schreiben mit Office-Programmen mit dem Zitieren und mit Zitierstilen umgehen

Zur Nachbereitung gab es Folien.

4. Plagiate

Immer mal wieder taucht die Frage auf, ob es an Universitäten Tools zum Checken von Dokumenten auf Plagiate gibt.

An der TUHH gibt es die Möglichkeit das kommerzielle System Turnitin unter bestimmten Bedingungen zu nutzen. Zu beachten sind dabei besonders die Vorgaben bezüglich Datenschutz und Urheberrecht. Da die Daten auf Server in den USA hochgeladen werden, dürfen in der Regel keine personenbezogenen Daten von Studierenden übermittelt werden. Die Dokumente dürfen auch nicht auf den Servern gespeichert und für spätere Vergleiche anderer Arbeiten herangezogen werden.

Meine Sicht auf das Thema:

Es sollte primär eigentlich vorrangig nur um das Bewusstmachen der Plagiats-Problematik gehen. Der Nutzen solcher Plagiats-Erkennungsdienste erscheint eher fraglich, vgl. dazu einen von der Schlussfolgerung her wohl immer noch aktuellen Aufsatz von Debora Weber-Wulff und Katrin Köhler aus dem Jahre 2010 (Plagiatserkennungssoftware 2010. IWP – Information Wissenschaft & Praxis, 2011, Heft 4, Seiten 159-166). Hier heisst es am Schluss als Fazit:

„Wir können diese Systeme nicht für den allgemeinen Gebrauch an Hochschulen empfehlen. Die aufgelisteten, teilweise nützlichen Systeme könnten für Situationen verwendet werden, in der eine Lehrkraft misstrauisch geworden ist und Quellen nicht schnell mit einer Suchmaschine finden kann. Aber im allgemeinen gilt: drei bis fünf längere Worte aus einem verdächtigen Absatz in einer Suchmaschine genügen für die Suche nach Quellen, die online zu finden sind!
Stattdessen schlagen wir vor, Studierende gezielt über das Thema Plagiat aufzuklären. Der Schwerpunkt sollte beim Aufklären liegen, was Plagiate sind und wie sie zu vermeiden sind, anstatt sich auf Aufdeckung und Bestrafung zu konzentrieren.“

Hier ein paar weitere interessante Links:

Noch ein paar weitere persönliche Anmerkungen:

Der Umgang mit der Plagiats-Problematik kann von einem eher missionarisch wirkenden Eifer begleitet werden, von dem für mich etwa auch Weber-Wulff nicht ganz frei ist. In einer Welt, die immer mehr der Bibliothek von Babel des Jorge Luis Borges ähnelt, kann aber auch eine gewisse Gelassenheit ein guter Weg sein.

In diesem Zusammenhang gefallen mir besonders Texte eines Kapitels mit dem Titel „Verfassen eines wissenschaftlichen Textes“ aus dem Buch zum wissenschaftlichen Arbeiten von Werner Sesink (Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten. Inklusive E-Learning, Web-Recherche, digitale Präsentation u.a. 9. Aufl. München: Oldenbourg 2012. S. 225–242). Hier heisst es z.B.

„Das Wort Kritik kommt vom altgriechischen krinein = unterscheiden. Bei einer kritischen Aneignung denken Sie sich zwar in die fremden Gedanken hinein, bleiben dabei aber unterschieden vom Autor der fremden Gedanken (bleiben Sie selbst); und Sie unterscheiden zwischen dem, was Sie überzeugt, weshalb es zu Ihrem eigenen Denken werden kann, und dem, was Sie nicht überzeugt und wozu Sie deshalb in Distanz bleiben. So entsteht aus der Aneignung etwas Neues: Ihr eigenes Denken verändert sich (also Sie entwickeln sich); und das Angeeignete verändert sich in der Rezeption durch Sie; es erfährt eine Transformation in eine Form, in der Sie es mit Überzeugung vertreten können.
[…] Sie beziehen beides aufeinander und kommen so zu etwas Neuem, in dem sowohl das angeeignete Fremde als auch Ihr Eigenes in transformierter Gestalt aufgehoben sind.“ (S. 226)

Dann folgen auf den Seiten 235 bis 237 vier Gründe, warum Plagiate „verwerflich“ sind:

  1. aus wissenschaftsimmanenten Gründen
  2. aus pädagogischen Gründen
  3. aus moralischen Gründen
  4. aus rechtlichen Gründen

Diesen Gründen folgt am Schluss eine, wie ich finde, schöne Relativierung:

„Ständig im Leben nehmen Sie die Gedanken anderer auf und verarbeiten Sie. Durch den Verarbeitungsprozess fließen sie ein in Ihr eigenes Denken und Handeln, ohne dass Sie ständig registrieren und festhalten, woher bestimmte Einflüsse denn ursprünglich einmal kamen. Sie könnten gar keine eigenen Gedanken entwickeln ohne die Rezeption der Gedanken anderer. Es ist unmöglich, diese ‚Quellen‘ auch nur annähernd umfassend offen zu legen. Sobald Sie eine überzeugende Argumentation, eine evidente Beweisführung oder eine zwingende Schlussfolgerung übernehmen, werden diese Ihre eigenen Gedanken, weil Sie sie im Nachvollzug selbst hervorgebracht (und nicht nur abgeschrieben oder sich gemerkt) haben. Sie werden im Laufe der Zeit wahrscheinlich sogar vergessen, dass Sie jemals anders gedacht haben. Wenn Sie dann in einer eigenen Arbeit diese Argumentation selbst überzeugt und daher andere überzeugend vorbringen, diesen evidenten Beweis führen oder diese zwingende Schlussfolgerung ziehen, sind dies keine Plagiate. Sollten Sie aber noch wissen, dass Sie von jemand anderem auf diese Gedanken gebracht worden sind, dann wäre es eine Sache der Anerkennung und des Dankes, darauf hinzuweisen.“ (S. 237)

5. Studentische Arbeiten und Urheberrecht

Das Thema Urheberrechte an studentischen Abschlussarbeiten und auch die Frage, wie man diese als Betreuende in der eigenen Arbeit zitieren sollte, stellt wohl immer wieder eine Herausforderung da.

Eigentlich ist auf einer Webseite des Servicebereichs Lehre und Studium am Ende alles gesagt, was es zum Thema Abschlussarbeiten und Schutzrechte zu sagen gibt. Im Text am Ende gibt es auch ein Muster für die Einräumung von Nutzungsrechten an geistigem Eigentum.

In einem aktuellen Beitrag im Blog „Insights – Lehr und Forschung im digitalen Experimentierfeld der TU Hamburg“ habe ich mir von einer Studentin eine ähnliche Erklärung bestätigen lassen, damit ihr schöner Text „Offenheit beim Forschen und Lernen – Ein Geben und Nehmen“ aus dem Bachelor-Seminar Wissenschaftliches Arbeiten von mir dort publiziert werden konnte.

Vielleicht macht es ja auch Sinn, Studierende selbst publizieren zu lassen und sie dabei zu unterstützen.

6. Nachdenken über Wissenschaft

Wann gibt es im Rahmen eines Studiums eigentlich Zeit und Raum dafür, darüber nachzudenken, was Wissenschaft eigentlich ist, wie sie funktioniert, was ihre Kennzeichen sind, was Wissenschaftlichkeit genau bedeutet?

Wolf Wagner, auch Autor des Buches „Uni-Angst und Uni-Bluff heute. Wie studieren und sich nicht verlieren“ (3. Aufl. Berlin: Rotbuch-Verl 2012.), schreibt in einem – allerdings mehr als 20 Jahre alten – Aufsatz (Wagner, Wolf: Wissenschaftliches Arbeiten. In: Handbuch kritische Pädagogik. Hrsg. von Armin Bernhard u. Lutz Rothermel. Weinheim: Dt. Studien-Verl. 1997. S. 425–429), dass der Begriff „Wissenschaftliches Arbeiten“ als doppelte Drohung daherkomme. 😎

Das Wort „Arbeiten“ zeige, dass „es hier nicht um etwas Leichtes, Lustvolles, Spielerisches geht, sondern um Schweres, Anstrengung, Ernst.“ Dabei seien in den Wissenschaften aber durchaus Neugier, Kreativität, „Abenteuer -und Streitlust“ gefragt.

Noch schwieriger wird es beim Wort „wissenschaftlich“, denn „Unwissenschaftliches“ gehöre „angeblich nicht an die Hochschule“. All das hätte also mit „Niveau“ zu tun. „[I]rgendwie [solle man] besser als andere [sein], ohne daß jemals Klarheit bestünde, was genau erfüllt sein muß, um die Forderung zu erfüllen. (Alle obigen Zitate S. 425)

Um dieser doppelten „Bedrohung“ entgegenzuwirken, lohnt es sich also vielleicht doch, über Wissenschaftlichkeit nachzudenken. Zudem kann Wissenschaft vielleicht auch als erlernbares „Handwerk“ angesehen werden. Dazu kommt, dass sich zur Zeit Konzepte und Werkzeuge der wissenschaftlichen Kommunikation verändern. Diese wandeln sich durch die Digitalisierung und sind optimalerweise von Offenheit geprägt. Diese Tendenz zu Themen wie Open Access und Open Science als aktuelle Herausforderung für die Wissenschaften betont auch Fragen von Wissenschaftlichkeit und die Qualität von Wissenschaft.

Wie das Schreiben wissenschaftlich wird, soll Thema eines kommenden Beitrages in dieser Reihe sein. Und natürlich gehört zum wissenschaftlichen Arbeiten mehr als Schreiben.

Hier soll nun aber ein Tool vorgestellt werden, mit dem bewusst gemacht werden kann, dass es unterschiedliche Sichten auf Wissenschaft gibt, ja, dass man eigentlich von Wissenschaften mit ihren unterschiedlichen Sichten, Paradigmen und Methoden sprechen muss.

Mit dem Wissenschaft-O-Maten werden Nutzenden in Form eines Quizes nach und nach Aussagen über Wissenschaft oder Wissenschaften angeboten. Sie werden jeweils gefragt, welcher Aussage über Wissenschaft sie am ehesten zustimmen würden. Am Ende wird ihnen aus den ausgewählten Antworten eine Sicht auf Wissenschaft angeboten, die zu diesen ausgewählten Aussagen am besten passen könnte.

Man kann dieses Tool im Rahmen einer Lehrveranstaltung oder als Selbst-Lern-Werkzeug nutzen, um Lernenden durch das Lesen der Ausagen über Wissenschaft(en) – zu deren Kennzeichen, über wissenschaftliche Tätigkeiten, über Wissenschaftlichkeit und Realität – bewusst zu machen, dass Wissenschaft unterschiedlich erfahren bzw. verschieden wahrgenommen werden kann.

Eine didaktisch-theoretische „Fundierung“ des Wissenschaft-O-Maten bietet vielleicht mein folgender, bisher nur als Preprint publizierte Text mit dem Titel „Wissenschaft und Offenheit : Reflexion über Wissenschaft als Teil der Lehre zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben“ (Nun in: Praxishandbuch Schreiben in der Hochschulbibliothek, herausgegeben von Willy Sühl-Strohmenger und Ladina Tschander. Berlin: De Gruyter, 2019).

7. Was macht Schreiben eigentlich wissenschaftlich?

Schreiben ist für den Philosophen Daniel-Pascal Zorn ein „Labor des Denkens“ (vgl. Einführung in die Philosophie. Frankfurt am Main: Klostermann 2018. S. 111). Mit diesem Bild wird auch für ingenieur- und naturwissenschaftliche Studierende, die ja öfters in Laboren unterwegs sind, das Schreiben vielleicht nähergebracht. Studierende dieser Fachgebiete schreiben vor ihren Abschlussarbeiten zudem in der Regel auch Klausuren und Versuchsprotokolle.

Jede und jeder schreibt, eine SMS, eine Mail oder auch anderes. Aber was macht nun das Schreiben wissenschaftlich? Schreiben beginnt eigentlich schon am Anfang einer jeden wissenschaftlichen Arbeit, etwa beim Exposé oder durch Notizen beim Lesen und Experimentieren (hier vielleicht als Forschungs-Tagebuch oder Laborbuch).

In Anlehnung an Otto Kruse (Lesen und Schreiben. 3. Aufl. Konstanz: UVK, 2018, S. 84) und Helga Esselborn-Krumbiegel (Richtig Wissenschaftlich Schreiben. 3. Aufl. Paderborn: Schöningh, 2014, S. 13) werden hier zur Beantwortung der Frage „Was macht Schreiben wissenschaftlich?“ drei Ebenen unterschieden, eine Fach-Ebene, eine Meta-Ebene und eine Form-Ebene:

Ebenen wissenschaftlichen Schreibens

Die Berücksichtigung aller drei Ebenen machen einen Text zu einem wissenschaftlichen Text.

Fach-liches

  • Einbettung des Textes bzw. des eigenen Schreibens in eine disziplinäre oder interdisziplinäre Systematik des Wissens und der Forschungspositionen
  • Begründetes Vorgehen, methodisch und argumentativ nachvollziehbar (Roter Faden)

Es gibt also eine deutlich erkennbare Fragestellung innerhalb eines Themas oder einer Disziplin. Es wird begründet, warum diese wichtig ist für das Fach bzw. für die Welt.

Es folgt daraus auch, dass eigene Überlegungen und eigene Forschung sowie die Forschung anderer unterscheidbar sind. Verwendete Quellen müssen belegt werden. Es wird klar gezeigt, wie man die Fragestellung beantworten will.

Meta-liches

  • Objektivität: objektive, sachliche Darstellung
  • Kritikgebot: skeptische, kritische Grundhaltung

Subjektive Urteile und Meinungen werden vermieden bzw. klar sichtbar gemacht. Bewertungen von Schreibenden oder innerhalb der benutzten Quellen sind deutlich erkennbar. Kritik wird begründet.

Form-ales

  • Einhaltung von Konventionen der Darstellung: Textgenres, Gliederungen, Zitierstile usw.
  • Sprachliche und terminologische Genauigkeit

Zum wissenschaftlichen Arbeiten und Schreiben gehört auch eine gewisse Exaktheit, und die fängt schon beim Umgang mit der Literatur an.

(Die letzten Abschnitte zu den drei Ebenen stammen aus einem Beitrag des Blog zum „Wissenschaftlichen Arbeiten“ der tub.)

Reflexion über Wissenschaftlichkeit und epistemische Kompetenz

Angesichts von Diskussionen um Fake-News, angesichts von notwendigen wissenschaftlichen Kompetenzen im Zeitalter eines von wissenschaftlich-technischem Fortschritt und der Digitalisierung geprägten Alltags, erscheint ein Nachdenken darüber, was Wissenschaftlichkeit heutzutage bedeutet, unumgänglich. Auch Themen wie Open Access und Open Science als aktuelle Herausforderung für die Wissenschaften betonen besonders Fragen von Wissenschaftlichkeit und die Qualität von Wissenschaft. Und nicht zuletzt hat eine kritische Wissenschaftlichkeits-Kompetenz als Teil einer ökologischen Kompetenz große Bedeutung für die ökologischen Herausforderungen in Gegenwart und Zukunft.

Epistemic competence - B. Bußmann und M. Kötter - CC BY NC 4.0

Abbildung aus: Bußmann, Bettina u. Mario Kötter: Between scientism and relativism. epistemic competence as an important aim in science and philosophy education. In: Research in Subject-matter Teaching and Leaning RISTAL 1 (2018). S. 82–101. https://doi.org/10.23770/rt1819 – Hier: S. 95, Fig. 2: Table of Epistemic Competence. CC BY NC 4.0 International License.

Die von Bettina Bußmann und Mario Kötter in ihrem Aufsatz „Between scientism and relativism. epistemic competence as an important aim in science and philosophy education“ (Research in Subject-matter Teaching and Leaning RISTAL 1 (2018). S. 82–101) beschriebene „epistemic competence“ trifft daher meine Vorstellungen, vgl. auch den kurzen deutschen Text „Epistemische Kompetenz – eine transdisziplinäre Aufgabe für Philosophie- und Naturwissenschaftsdidaktik“ von Mario Kötter, der 2018 im Rahmen einer Fachtagung des des Forums für Didaktik der Philosophie und Ethik mit dem Titel „Lebenswelt und Wissenschaft im Philosophie- und Ethikunterricht“ entstanden ist.

Aufmerksam wurde ich auf diesen Aufsatz durch die "Opinion Page" im Februar Newsletter HPS&ST monthly note (Direktlink zur Opinion Page vom Februar), der monatlich Hinweise auf Neuigkeiten zur "History and Philosophy of Science, and Science Teaching" bringt. Die Themen der Opinion Page sind immer wieder sehr interessant.

Eine wie oben beschriebene epistemische Kompetenz ist für mich Teil einer umfassend gemeinten Informationskompetenz – und umgekehrt 😎 -, wie an anderen Stellen schon beschrieben wurde. An diesen wurde der von Ilkka Tuomi beschriebene Begriff der „epistemic literacy“ verwendet (vgl. Tuomi, Ilkka: Epistemic Literacy or a Clash of Clans? A Capability-based View on the Future of Learning and Education. In: European Journal of Education 50 (2015) H. 1. S. 21–24 – OA-Version).

Ein Nachdenken über Wissenschaftlichkeit anregen und damit als Einstieg auch epistemische Kompetenz fördern, ist mit dem Wissenschaft-O-Maten möglich. Dieser wird als Open Educational Resource in einem Blog zum wissenschaftlichen Arbeiten an der TU Hamburg angeboten. Auf einfacher Ebene lassen sich damit unterschiedliche Sichten auf Wissenschaft bewusst machen. Je nach ausgewählten einzelnen Statements über Wissenschaft gibt das Tool aufgrund der Antworten am Ende automatisch diejenige Sicht der Wissenschaft aus, zu denen die Antworten am besten gepasst haben. Das Fragespiel kann danach beliebig wiederholt werden.

Sichten auf Wissenschaft - mit einem H5P-Modul

Werkzeuge und Formate wissenschaftlicher Kommunikation historisch

Mit dem Buch "The Scientific Journal : Authorship and the Politics of Knowledge in the Nineteenth Century" (University of Chicago Press, 2018) zeigt Alex Csiszar, dass die heutigen Formate und Werkzeuge wissenschaftlicher Kommunikation wie Zeitschriften, Zitier-Datenbanken, das Peer Review u.a. eine Geschichte haben und dass deren Entstehen Auswirkungen darauf hatte, wie Wissenschaft funktioniert, von Wissenschaft Treibenden "gelebt" wird sowie wie Wissenschaft von Öffentlichkeit und Politik wahrgenommen wird.

„Formats and genres [of creating and publishing scientific knowledge] have epistemic consequences.“ (S. 3)

Eine Reihe der Aufsätze von Alex Csiszar sind zur Zeit frei zugreifbar:

Die Schriften von Csiszar fügen sich ein in eine Reihe weiterer wissenschaftshistorischer Werke, die zeigen, wie institutionelle Veränderungen der Art, wie Wissenschaft getrieben wurde, etwa in Bezug zu Universitäten oder zu Kommunikationsmitteln, immer auch Auswirkungen darauf haben, wie Ergebnisse von Wissenschaft veröffentlicht werden und welche ethische Sicht auf gute wissenschaftliche Praxis sich ausbildet.

Dies erscheint verwandt zu aktuellen Fragen zur Zukunft von Universitäten und des wissenschaftlichen Wissens. So werden etwa durch die Tendenz zu Offenheit, zu Themen wie Open Access und Open Science, als aktuelle Herausforderung für die Wissenschaften besonders Aspekte von Wissenschaftlichkeit und die Qualität von Wissenschaft betont und kritisch hinterfragt (vgl. zum Letzteren meinen Text: Wissenschaft und Offenheit, Preprint 2018).

Der amerikanische Historiker Chad Wellmon (Organizing enlightenment. Information overload and the invention of the modern research university. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2015) betont, dass das Erkennen in der Wissenschaft immer auch mit Ethik, also mit wertorientierten wissenschaftlichen Handlungen, verbunden ist.

„[…] the research university, for which epistemology was always inextricable from ethics“ (S.8)

Gerade die institutionelle Entwicklung der Wissenschaft in Universitäten verbunden mit einer immer stärkeren Ausdifferenzierung der Disziplinen war, wie Wellmon zeigt, eine Antwort auf Fragen, welches Wissen wie legitimiert wird und eine Reaktion auf Entwicklungen des ausufernden Publikationswesens am Ende des 18. Jahrhunderts („information overload“).

Beschreibt Wellmon Herausforderungen an Wissenschaftlichkeit zur Wende zum 19. Jahrhundert, so hinterfragt der Wissenschaftshistoriker Paul Ziche (Wissenschaftslandschaften um 1900. Philosophie, die Wissenschaften und der
nichtreduktive Szientismus. Zürich: Chronos 2008) das Verständnis von Wissenschaftlichkeit am Beginn des 20. Jahrhunderts im Rahmen pluralistischer „offener Wissenschaftslandschaften“, in denen es zu einem pluralistischen, nichtreduktiven Verständnis von Wissenschaft kommt, das nicht in Relativismus abgleitet.